»Chaaa-haaa-haarly«. Sie singt den Hund herbei. »Chaaa-haaa-haarly«. Sie nutzt die ganze Tonleiter, ihre Stimme schwingt sich in ungeahnte Höhen auf. Ihr ganzes Herz ruht in jeder einzelnen Silbe. Ein weißes Bündel schießt über die Wiese. Wenn ich die Töle beim Namen rufe, kommt sie nie. Und wenn ich doch mal ein klein wenig Glück habe, dann trottet das Wollknäul höchstens missmutig in meine Richtung. »Feeeeeiner Hund! Feeeeeein gemach!t Bist mein Allerallerallerallerallerbester!«, flötet sie. Der Allerallerallerallerallerbeste wedelt wie wild mit dem kurzen Schwanz, hüpft freudetrunken an Frauchen hoch. Mich würde nicht wundern, wenn er den Verstand verliert oder einen Herzinfarkt bekommt. Ich hasse es wirklich, wenn Sie den Hund ruft, ihre Stimme ist viel zu beschwingt. Zum Kuckuck, es ist nur ein verdammter Hund! Und sie steht nicht vor einem Millionenpublikum auf der Bühne, muss keine Arie zum Besten geben. Was soll das? Sie hat einfach viel zu gute Laune! Sie hat einfach immer viel zu gute Laune! Schon wenn Sie mich am Morgen weckt, »Reeei-eieiein-hoohoo-hooold, ahaha-ahaha-aufwawawaaa-chen«. Da will ich lieber gar nicht aufwachen. Es ist reine Folter, von einem Menschen mit blendender Laune aus dem Schlaf gerissen zu werden. Das ist einach zuviel! Zugegeben, ich bin ein Morgenmuffel. Dafür kann ich nichts. Bevor ich nicht meine zwei Tassen Kaffee plus dazugehöriger Zigaretten intus habe, bin ich zu nichts zu gebrauchen. Sie weiß das. Jeden Morgen muss ich mich beherrschen, ihr nicht an die Gurgel zu gehen. Ich muss sie einfach bekämpfen – systematisch! Ich habe keine Wahl. Obwohl sie Blumen liebt, kann ich ihr kein Veilchen verpassen. Vor körperlicher Gewalt schrecke ich zurück. Was würden die Nachbarn denken? Ich kann sie ja nicht mit einem blauen Auge zum Einkaufen schicken. Mein Ruf wäre ruiniert und ich bei allen untendurch. Heutzutage ist körperliche Gewalt verpönt, überhaupt nicht mehr en vogue. Früher war das noch anders! Da hat man einfach mal zugelangt. Es musste ja nicht gleich Blut fließen. Aber man durfte noch ein Zeichen setzen und zeigen, wer der Herr im Hause ist. Heute leben wir in einer Wir-haben-uns-alle-lieb-Gesellschaft. Da kommt man gleich ins Gefängnis, wenn man sich Respekt verschaffen möchte. Wenn ich hier das sagen hätte … dann … Ach, lassen wir das. […]
Hat der jetzt etwa rote Augen? Sieht aus, als würde er gleich losheulen. Das kann ich jetzt aber gar nicht gebrauchen. Das muss nun echt nicht sein. Nicht jetzt. Er hat so viel Zeit gehabt, seine Gefühle zu offenbaren … all die Jahre. Da kam meistens aber nicht viel von seiner Seite. Kalt wie Stein. Und ich hab so darunter gelitten. Wie es mir dabei ging, war ihm immer ziemlich egal. Auf meine Bedürfnisse ist er so gut wie nie eingegangen. Wie oft habe ich versucht, mit ihm zu reden? Wie viele Male habe ich versucht, ihm klarzumachen, dass mehr von seiner Seite kommen muss? Wie oft habe ich ihn aufgeklärt, über mich und über meine Gefühle? Meine Worte erreichten ihn nicht, drangen nicht bis in sein Herz. Verschlossen, zugemauert, kalt. Und wenn ich ihn doch mal zum reden brachte, dann redeten wir aneinander vorbei; gerade so, als würden wir zwei verschiedene Sprachen sprechen. Und dabei brauchte ich ihn doch so sehr. Ich hatte wirklich sehr zu leiden unter seiner Gefühlslosigkeit. O Gott, und ich war so verliebt in ihn – am Anfang. So wie noch in keinen vor ihm. Er war mein absoluter Traummann, groß, breitschultrig, volle dunkle Haare, und was ich am meisten an ihm liebte: seine braunen Augen. Ich fahr wirklich total ab auf braune Augen. Die schauen jetzt gerade aber sehr traurig aus. So habe ich ihn noch nie gesehen. Aber ich will jetzt echt nicht schwach werden. Ich glaube einfach nicht, dass er sich ändern kann. Ich weiß, dass er eine komplizierte Kindheit hatte. Leider hat er sie nie aufgearbeitet. Und ich kann ihm da nicht mehr weiterhelfen. Liebe war uns ist echt ein Fremdwort in seiner Familie. Seine Mutter ist wirklich total reserviert. Ich habe noch nie gesehen, dass sie ihren Sohn liebevoll in die Arme schließt. Wenn sie ihn doch mal umarmt, hat das was sehr Mechanisches, Rationales und Kaltes. Das spielt sich alles im Kopf ab. Sein Vater ist da nicht anders. Beide hatten es nie einfach im Leben. Er hat mir davon erzählt. Aber wir alle haben unser Päckchen zu tragen. Fakt ist, ich kann seinen stummen Schmerz nicht länger tragen. Ich kann nicht immer für zwei da sein, schauen, dass es ihm und gleichzeitig auch mir gut geht. Dafür habe ich nun echt keine Energie mehr. Wer kümmert sich denn um mich? Wer gibt mir Kraft? Ich brauche einen Partner auf Augenhöhe. Einen, der mir sein Herz ausschüttet, mir erzählt, was ihn beschäftigt. Einen, der mich an seinen Leben teilhaben lässt und der auf mich und meine Bedürfnisse eingeht. Ich brauche Offenheit. Ich brauche Liebe. Seine Verschlossenheit lässt mich ratlos zurück. Ich komme schon lange nicht mehr an ihn ran. Mit dem Neuen ist das was ganz anderes. Der kann wirklich super zuhören. Und wie einfühlsam der ist. Nein, er hat keine braune Augen. Und eigentlich ist er auch gar nicht so mein Typ. Es hat echt lange gedauert, bis es zwischen uns geknistert hat. Das war natürlich auch nie geplant, und wäre auch niemals passiert, wäre die Beziehung mit meinem Ex intakt gewesen. So was passiert immer nur dann, und gerade eben dann. Der Neue war im richtigen Moment da. Das ist natürlich nicht einfach für meinen Ex-Freund. Schließlich sind die beiden ja befreundet; ich füge mal hinzu »gewesen« … Das ist natürlich eine komplizierte Situation jetzt. Für uns alle. Aber irgendwie hat mein Ex ja Tor und Tür geöffnet, mich geradezu in seine Arme gedrängt. Ich kann einfach nicht mehr länger nur neben meinem Ex her existieren. Das reicht mir nicht. Das ist kein erfülltes Leben. Das ist keine Partnerschaft. Ich brauche Emotionen. Ich brauche Liebe. Wer bitte kann auf Dauer ohne Liebe leben? Auch er wird das eines Tages begreifen, wenn er über den größten Schmerz hinweg ist. Er wird begreifen, dass das schon lange keine Beziehung mehr war, in der wir wachsen konnten. Ich glaube, ich tue uns beiden echt einen großen Gefallen, wenn ich einen Schlussstrich ziehe. Er wird das schon packen. Schließlich ist er ein großer Junge. Ich hoffe nur, er lässt seinen Schmerz auch zu. Das kann ihn echt weiterbringen. Und vielleicht kann er’s bei seiner nächsten Freundin besser machen. Vielleicht schafft er’s ja dann endlich mal, Gefühle zuzulassen. Ach, jetzt werde ich doch ein bisschen wehmütig. Oh, und jetzt laufen ihm tatsächlich Tränen übers Gesicht. Soll ich ihn in die Arme nehmen? Nein, besser nicht. Das führt zu nichts. Da müssen wir jetzt beide durch. Aber jeder für sich. Das hat so jetzt echt keinen Wert. Nur aus Mitleid … Neine, er braucht Zeit. Und ich auch. Wir sind alle sind schon mal verlassen worden. Das ist nicht einfach. Aber wenn man da durchgeht, dann macht einen das auch stärker. Die Zeit kann vieles heilen. So, ich lass ihn jetzt dann besser mal allein … Ich brauch jetzt unbedingt eine starke Schulter zum Anlehnen; ich muss unbedingt meinen Herz-Mann sehen – sofort!
Ich liebe Experimente. Und es gibt Menschen, die behaupten, ich habe ein großes Herz. Menschen! Ich gehe vor dem Obdachlosen in die Knie, der am Eingang der U-Bahn Station auf dem Boden kauert und der versucht, die Wärme aus dem Lüftungsschacht einzufangen. Es stinkt nach Erbrochenem und Kot. Ich kann das ertragen. »Willst du ’n bisschen Geld?«, frage ich den Obdachlosen. Ich schaue in ein Paar gerötete Augen. Stumm hält er mir einen zerfressenen Kaffeebecher vor die Nase, in dem sich ein paar kupferne Münzen tummeln. »Was wäre, wenn heute dein Glückstag ist, und ich dir – sagen wir mal – 10 Euro gebe?«, frage ich das menschliche Wrack. Seine Augen werden eine Spur größer. Ich habe seine Aufmerksamkeit. Ich nestle an meinem Mantel und fische mein Portemonnaie aus der Innentasche. Ich öffne das Fach mit den Münzen und krame ein 1-Cent-Stück hervor. »Nun«, fahre ich fort, «du weißt ja, so ein Cent-Stück bringt ja bekanntlich Glück und somit viel mehr Wert als ein 10-Euro-Schein!» Ich lasse den Cent in seinen Becher plumpsen. Meine Aufgabe ist getan. Ich erhebe mich. Der Penner schaut mich aus ausdruckslosen Augen an. Aus seinem Mundwinkel läuft Speichel. »Arsch«, bringt er schließlich hevor. »Bleib ruhig, Kleiner«, entgegne ich, »ich bringe dir Glück« Ich mache mich auf den Heimweg.
Am nächsten Tag sitzt dieser abgehalfterte Kerl wieder am Eingang der U-Bahn-Station. Das hatte ich gehofft. Heute ist es kälter als gestern und es fällt leichter Nieselregen. Ich beuge mich zu dem stinkenden Etwas hinunter. »Na, kennst du mich noch?« Er hebt den Kopf und sieht mich mit den gleichen ausdruckslosen Augen wie gestern an. Heute scheinen sie einen noch kräftigeren Rotton einzunehmen. Es ist nicht festzustellen, ob er sich noch an mich erinnert. Vielleicht existiert das Gestern für ihn gar nicht. Vielleicht existiert auch kein Morgen für ihn. Mir ist es einerlei. »Mein Freund, ich habe hier etwas für dich«, rede ich weiter und krame mein Portemonnaie hervor. Ich zücke einen 10-Euro-Schein und lasse ihn vor seiner Nase tanzen. Er verfolgt den Schein mit den Augen. »Na, wär das was für dich?«, frage ich. Seine Pupillen verengen sich, während sein Mund sich öffnet. Ich lasse den Schein fallen. Er landet auf seiner versifften Hose. Es dauert ein paar Sekunden, ehe seine schwarze Hand den Schein greift. »Hab ich nicht gesagt, ich bringe dir Glück?«, sage ich und erhebe mich. »Danke, Mister!«, höre ich ihn noch mit brüchiger Stimme rufen. Ich habe ein gutes Gefühl, das mich den Weg nach Hause leichten Schrittes zurücklegen lässt. […]
Ich hänge die Hose auf den Kleiderbügel, streiche die Falten glatt. Da fällt mir der Traum von letzter Nacht ein: Ich saß am Steuer eines Autos und stand an einer Kreuzung. Die Ampel zeigte rot. Plötzlich begann mein Fahrzeug rückwärts zu rollen. Ich drückte erschrocken die Bremse. Das Fahrzeug reagierte nicht, rollte einfach weiter. Ich drückte stärker aufs Bremspedal. Die Bremse, sie funktioniert nicht richtig. Und so konnte ich trotz aller aufgewendeter Kraft nicht verhindern, dass ich auf das Fahrzeug hinter mir auffahre. Dann wache ich auf. Die Hose muss exakt in der Mitte des Bügels hängen. Das ist wichtig. Hängt sie zu weit auf der rechten oder auf der linken Seite, gerät der Kleiderbügel in eine Schieflage. Das sieht dann sehr unordentlich aus; ein bisschen wie ein sinkendes Schiff. Zudem besteht die Gefahr, dass der schiefe Bügel mit anderen Bügeln ins Gehege kommt. Das kann zu einem heillosen Durcheinander führen. Ich merke, wie mein Körper sich entspannt. Es hat etwas sehr mediatives, Falten aus einer Hose zu streichen. Ich wünschte, es gäbe mehr Hosen, die in den Schrank verräumt werden müssten. Ich nehme mir vor, später die Wohnung zu putzen. Das stabilisiert das innere Gleichgewicht. Ordnung ist das Fundament für Sicherheit, Sauberkeit verstärkt sie. Stelle ich den Zustand der Ordnung her, weiß ich, ich habe die Kontrolle über mein Leben. Das fühlt sich unglaublich gut an. Ich blicke aus dem Fenster, sehe bleiche Häuserwände und einen Himmel mit schweren Wolken. Da draußen herrscht Chaos, das blanke Chaos. Eine Welt, die nicht zu kontrollieren ist, wahrscheinlich auch nie zu kontrollieren war. Ich habe keinen Zugriff auf diese Welt. Von meinem Fenster aus ist das Chaos nicht zu sehen. Wenn ich nicht mit bestimmter Sicherheit wüßte, dass das Chaos tief im Leben verwurzelt ist, könnte ich fast meinen, es herrsche eine gewisse Symmetrie da draußen. Aber ich lasse mich nicht täuschen. Ich weiß, warum es so gewissenhaft da draußen scheint! Es liegt einzig und allein daran, dass ich mich in der Sicherheit meiner eigenen vier Wände wiege! Hier drin halte ich die Fäden in der Hand. Ich habe gar kein Auto und habe auch seit vielen Jahren keines mehr gesteuert. […]
Lieschen Müller war sich sicher, ihr Goldfisch führte Übles mir ihr im Schilde. Immerzu starrte er sie aus großen Kulleraugen und mit unverfrorener Miene an, klappte rhythmisch das Maul auf und zu. Lieschen Müller kam zu der Überzeugung, dieser Fisch verspottete sie. Und obwohl sie wusste, dass Fische nicht reden können, meinte sie, von seinem Maul die Worte „dumme Schlampe“ ablesen zu können; ohne Unterlass, vierundzwanzig Stunden am Tag. Das stahl die Freude aus ihrem Leben und trieb sie immer mehr an den Rande eines Nervenzusammenbruchs. Eines Montagmorgens hatte sie genug. Das Maß war voll. Sie beschloss, der Fisch musste weg – und zwar gleich! Nur wie konnte sie den finsteren Gesellen loswerden? Lieschen Müller überlegte angestrengt. Sollte sie Öl ins Goldfischglas kippen? Sie hatte gelesen, dass bereits ein Tropfen Öl ausreiche, ein ganzes Aquarium zum Umkippen zu bringen. Aber sie wollte keine Überschwemmung riskieren. Oder sollte sie ihn einfach das Klo runterspülen? Nein, ebenfalls keine gute Idee. Dann müsste sie den Rest ihres Lebens Todesängste ausstehen, der Goldfisch könnte sich durch das Abflussrohr wieder nach oben arbeiten und ihr in den Allerwertesten beißen. Wer weiß schon, zu was ein Goldfisch auf Rachefeldzug fähig war? Die Erfahrungswerte in dieser Angelegenheit waren gering. Lieschen Müller seufzte verzwweifz und schlug die Hände vors Gesicht. Eine Träne kullerte ihr über die Wange. Sie war überfordert. Was sollte sie bloß machen? Plötzlich kam ihr eine geniale Idee! Vor ihrer Tür floß der Kanal; ein schmutziges Gewässer, 1846 von Menschenhand erbaut, Das war doch der geeignete Platz, dort könnte man ihn bestens aussetzen. Ein begnadeter Schachzug. So könnte man sie nicht des Mordes für schuldig erklären, nein, das genaue Gegenteil wäre der Fall! Sie würde einer armen Kreatur eine Einladung für ein neues Leben aussprechen. Das Goldfischglas war ohnehin viel zu klein. Und im Kanal hätte der Goldfisch unendlich viele Möglichkeiten und soooo viel Platz zum schwimmen. Lieschen Müller fühlte sich heroisch und begann durch die Wohnung zu tanzen. Als ihre Lungen zu rasseln begannen, schnappte sie gierig nach Luft und das Goldfischglas unter den Arm. Schwer atmend und noch immer mutig schlurfte sie die Treppen hinunter. Als die Haustür hiner ihr ins Schloss fiel, beschlichen sie Zweifel und so verbarg Lieschen Müller das Goldfischglas unter ihrer Weste. Heutzutage weiß man ja nie, zu was die werten Mitmenschen fähig sind. Man steht schneller vor dem Kadi, als man gucken kann. Und so war sie dann sehr froh, als sie endlich auf der Paul-Ehrlich-Brück stand, die über den Kanal führte. Es war noch früh am Tag und nur wenige Fußgänger waren zu sehen. Von den lärmenden Auto, die ohne Unterlass an ihr vorbeipreschten, hatte Lieschen Müller keine Angst. Die scherten sich einen Dreck um eine Frau in den besten Jahren auf einer Brücke. Sie schaute noch einmal in das Goldfischglas. Noch immer das gleiche Bild; der Goldfisch starrte sie aus großen Kulleraugen und mit unverfrorener Miene an und verspottete sie. Seine Bewegungen schienen etwas hektischer als sonst. Vermutlich hatte er eine gewisse Vorahnung, dass sich sein Leben gleich grundlegend ändern würde. Lieschen Müller schloss die Augen. Sie konnte nicht mitansehen, wie der Goldfisch über Bord ging. Das war nichts für sie. Langsam goß sie das Wasser aus dem Glas über das Brückengeländer, bis es plätschernd auf der Wasseroberfläche des Kanals aufkam. »Lieschen. Huhu Lieschen, was machst du denn hier, so früh am Morgen?« Eine Stimme drang durch die Dunkelheit ihrer geschlossenen Augen. Das Glas glitt ihr vor Schreck aus den Händen und. zerschellte zu ihren Füßen in tausend Stücke. Die Augen wollte sie dennoch nicht öffnen. Was für eine Schande. […]
Ich fühle mich wie ein Vogel, dem man die Flügel amputiert hat und der in einen winzigen Käfig gesperrt wurde. Was mir fehlt, ist Lebensenergie; ein Kühlschrank mit gezogenem Stecker, eine braungefleckte Bananenschale auf schmutzigem Boden. Ohne jeden Sinn – hoffnungslos, trostlos, Fallobst. Ich bin das letze Glied in der Nahrungskette. Gott hasst mich. Flasche leer, Ofen aus, Deckel zu.
Wieso nur bin ich nicht im Bett geblieben? Handy ins Klo, Computer zum Fenster raus. Klingelschild abmontiert, Tür verbarrikadiert. Decke über den Kopf, tief vergraben, schlafen, schlafen, schlafen. Schlaf ist das Einzige, dass in einer solchen Situation ein kleines Maß an Freiheit schenkt (sei sie auch noch so gering). Der Schmerz der menschlichen Existenz wird als weniger bedrohlich wahrgenommen. Wohl dringt eine gewisse Dosis, in Form bizarrer Träume, in die Regionen meines unterversorgeten Gehirns, aber für kurze Zeit senkt sich dennoch auch der Schleier des Vergessens über mich. In seltenen Fällen habe ich gar das große Glück und ich nehme einen zarten Hauch von Freude wahr, wenn ich wie tot in die Kissen plumpse. Mein geschundener Körper hat die ganze Zeit gebettelt und gefleht, abgeschaltet zu werden. Kaum bin ich unten angekommen, fallen mir auch schon die Augen zu. Nichts wie weg hier! Ich wünschte, ich könnte ewig im Zustand des Nicht-Denkens verharren und erst wieder erwachen, wenn sich das Blatt zum Guten gewendet hat. Aber nichts ist für die Ewigkeit. Außer der Tod! Irgendwann kommt unausweichlich der Moment, eine Gehirnzelle – eine von denen, die ganz weit hinten wohnen – beginnt das Lamentieren. Zuerst kaum vernehmbar, ein leises Murmeln in weiter Ferne. Doch die Stimme steigert sich, nimmt an Schärfe zu: «Solltest du nicht langsam mal aufstehen? Das Bruttosozialprodukt steigern? Was Sinnvolles machen?« Es dauert nicht lange, ehe weitere Gehirnzellen in den Chor einfallen: »Deine Eltern hatten Recht! Du bist ein fauler Sack, ein hoffnungsloser Fall! Zu nichts zu gebrauchen!» Bald darauf schallt es von den Wänden: »Versager! Taugenichts! Fauler Strick!« Dieser Kakophonie kann ein Mensch unmöglich lange standhalten. Mich treibt sie an den Rande des Wahnsinns, raubt mir das Allerletzte, was mir geblieben war … den Schlaf des Vergessens!
Aber das Leben ist gerecht, es lässt immer eine Wahl offen. Die Entscheidung liegt ganz bei dir! Wähle mit Bedacht! Was darf es heute sein? Pest oder Cholera? Für welches schmerzvolle Ende kannst du dich jetzt gerade erwärmen? Greif zu!
Ich wähle das kleinere Übel. Es dauert eine halbe Ewigkeit, ehe ich es auf meine beiden Beine schaffe. Mein Körper will definitiv nichts mit mir zu tun haben. Befehle führt er nur widerwillig bis gar nicht aus. Ich schleiche ins Bad. Wer zur Hölle ist der Typ, der mich da anschaut? Tatsächlich, ich sehe genauso Sch… aus, wie ich mich fühle. Wirklich, ein stimmiges Gesamtkonzept! Ich träufle mir kaltes Wasser ins Gesicht und verpasse mir sicherheitshalber ein paar Ohrfeigen. Das hinterlässt einen roten Abdruck und bringt ein klein wenig Leben in den Organismus. Der Kaffee in meiner Tasse könnte Tote zum Leben erwecken. Leider bin ich die Überdosis Koffein bereits mehr als gewöhnt. Auch das braune Pulver aus dem Amazonasgebiet, das doppelt so viel Koffein enthält, kann mich nicht mehr weit nach vorn bringen. Aber immerhin hält es die Illusion aufrecht, dass ich meine, ich könne jetzt das Haus verlassen.
Die Sonne brennt vom blauen Himmelsfirmament. Jede noch so kleine Wolke hat vor Schreck die Flucht ergriffen. Ich plädiere für Starkregen mit Sturmböen. Oder feisten Schneefall (es ist mir egal, dass es Juli ist!). Mutter Sonne verhöhnt mich. Erbarmungslos sendet sie ihre Strahlen auf eine schmutzige, verkommene Erde und jeder Sonnenstrahl brennt wie Feuer in den Augen. Ein Atomkrieg wäre herzlich willkommen. Das würde die Wahrscheinlichkeit exorbitant steigern, der Einzige auf diesem von tumber Menschenhand erschaffenen Grünstreifen zu sein. Ich müsste nicht unzähligen verblödeten Artgenossen begegnen, die verzweifelt ihre Nasen in die Sonne strecken. Aber o weh, es drängeln sich Mütter, die unförmigen Ärsche in viel zu enge Hosen gepresst, mit ihren schreienden und Rotz besuddelten Gören, halbstarke Jugendliche mit überbordendem Selbstvertrauen und lärmenden Skateboards. Inline-Skater auf wackeligen Beinen, aggressive Radfahrer, die jegliche Verkehrsregel missachten, Hausfrauen mit Walking-Sticks und derben Reiterhosen (noch eine Kategorie schlimmer als Mütter mit Kinderwägen), ausgelutschte Rentner, die im Schatten auf Parkbänken dahinsiechen und auf den nächsten Hitzschlag warten, Prolls mit Bierflaschen in ihren Pranken, die es auf mich abgesehen haben und natürlich die üblichen Verrückten, die man nur im Sommer trifft. (Ich frage mich wirklich, wo diese Durchgeknallten im Winter stecken! Verbringen die den Winter in der Sonne? In Südamerika würde man ihren Kauderwelsch und das ganze zusammenhangslose Zeugs das sie pausenlose schreien, ohnehin nicht verstehen. Vielleicht würde man sie dort, nach den geltenden Normen und Regeln gar nicht für verrückt erklären. Aber hier in der Hauptstadt nerven sie einfach gewaltig.) Kurz gesagt, hier tummelt sich alles, was keinen Rang und keinen Namen hat. Ich hasse Menschen. Ich hasse sie wirklich! Ich komme nicht umhin, festzustellen, hier bin ich völlig deplatziert (wobei »hier« natürlich den ganzen Planeten einschließt). Am liebsten würde ich im Erdboden versinken. Nichts wie weg! Die Bushaltestelle ist nicht weit, jeder Schritt eine Zumutung. Die Hoffnung, bald wieder in der Sicherheit der eigenen vier Wände zu weilen schenkt mir die nötige Energie, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Der Bus fährt dröhnend und schnaufend vor meiner Nase weg. Alles andere wäre auch eine große Überraschung gewesen. Jetzt muss ich zwanzig Minuten an dieser stinkenden Straße stehen, mich von der nie enden wollenden Karawane blechener Vehikel vergiften lassen. Guten Appetit! »Hey, Arschloch!« Nein, das ist nicht für mich bestimmt. Ganz bestimmt nicht! […]
»Liam hat meine Schwester gefickt!«
Frank ist aufgebracht. Eigentlich wählt er seine Worte immer mit Bedacht. Frank ist eher der ruhige Typ. So wie alle Nordlichter.
»Und? Was ist so schlimm dran?», frage ich. Nein, da sind keine Nadelstiche in meinem Herzen.
»Na, hör mal! Du weißt doch, sie hat einen Freund! Und ihr Freund ist echt ein netter Kerl! So was macht man einfach nicht. Da müssen wir nicht drüber reden!«
Nein, müssen wir nicht. So was macht man nicht. Ihr Freund ist echt ein netter Kerl. Nett ist die kleine Schwester von Scheiße. Wenn ich eines in meinem Leben gelernt habe, dann das: Nett, in den Augen einer Frau, ist absolut gleichbedeutend mit langweilig. Wenn du nett bist, hast du keine Chance bei ihr. Du bist maximal ihr Fußabstreifer. Sie wird dir gehörig wehtun.
»Ich mag den Freund deiner Schwester«, versichere ich. »Aber woher willst du wissen, dass nicht auch er was am Laufen hat?«
Frank schnaubt verächtlich durch die Nase. »Bist du ihr Anwalt?«
»Ich will nicht schlecht über sie reden. Sie ist deine Schwester.« Eine Spur Traurigkeit hat sich in meine Stimme geschlichen.
»Sie trinkt einfach viel zu gern«, blafft Frank.
»Wer nicht, Frank! Wer nicht …«
»Trotzdem! Es bleibt dabei! Liam ist ein Drecksack!«
Ich könnte entgegnen: »O wie recht du hast, Frank! Liam ist ein Drecksack! Ein gottverdammter Drecksack sogar! So charmant und sexy, so überaus erfolgreich und verdorben! Und dieses herzliche Lachen! Diese strahlenden Augen! Es ist zum Kotzen! Keine fünf Minuten dauert es, ehe er sie klargemacht hat. Er braucht ihnen nur in die Augen zu schaun. Einfach so, im Handumdrehn, legt er sie flach. Eine nach der andern. Zack! Bumm! Bäng! Warum kann ich nicht auch so sein? Warum bin ich kein Drecksack? Ich würde alles dafür geben, mit Liam zu tauschen! Sei es auch nur für einen Tag …«
Das könnte de schöne Fassade, die ich mir im Lauf des Lebens zugelegt habe, zum Einstutz bringen. Wie würde ich dastehen vor Frank? Wenn das die Runde macht – nicht auszudenken! Ein gewisses Maß an Würde muss sich der Mensch schon bewahren.
Noch weniger kann ich Frank mit auf den Weg geben: »Du weißt ja gar nicht, was du verpasst, Frank! Deine Schwester ist die totale Granate im Bett! Sie bläst, dass einem Hören und Sehen vergeht!« Ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt, das Ego aufzupolieren. Frank und ich wollen ja noch ein Weilchen befreundet bleiben.
Jan kniet auf dem Bett, neben sich die Pistole. Auf der weißen Bettwäsche kommt sie besonders gut zur Geltung. Es war einfacher als gedacht, das gute Stück aufzutreiben. Zuerst hatte er keine Ahnung, wo er suchen und wen er fragen sollte. Verständlicherweise wollte er im Bekanntenkreis keinen Argwohn erregen und das Gespräch auf Handfeuerwaffen lenken. Dann kam ihm der «Kalte Kranich» in den Sinn; eine heruntergekommene Kneipe in einer Seitenstraße unweit Jans Wohnung, vor der des öfteren Polizeifahrzeuge mit lauten Sirenen Halt machten. Jan fand, das war ein guter Ort, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen.
An einem fröhlichen Spätsommertag, die Sonne schien gütig, stieß Jan die Eingangstür des Kalten Kranichs auf. Eine Wand aus Rauch schlug ihm entgegen. So etwas wie eine Lüftungsanlage schien es hier drin nicht zu geben. Um den langen Tresen gruppiert saßen etwa ein Dutzend Männer. Keiner trank Alkoholfreies, keiner sah auch nur annähernd vertrauenswürdig aus. Das fand sofort Jans ungeteilte Zustimmung. Das Barometer seiner Laune schnellte in die Höhe. Jan setzte sich auf einen freien Barhocker, unweit eines Solarium gebräunten Glatzkopfs von wuchtiger Gestalt. Eben jener führte gerade eine angeregte Unterhaltung mit einem hageren Mann im dunkelblauem Adidas-Trainingsanzug und starkem südländischen Akzent. Die zwei gaben ein ulkiges Paar ab. Jan bestellte ein kleines Bier, ohne sich um den schiefen Blick zu kümmern, den ihm die in die Jahre gekommene Wirtin zuwarf.
Auf dem Tresen tanzten Staubflocken. Im Kalten Kranich nahm davon niemand Notiz. Der Glatzkopf, dessen linke Halsseite ein schlecht tätowierter Totenkopf zierte, brach in schallendes Gelächter aus, hieb dem Drei-Streifen-Träger enthusiastisch auf den Rücken. Der hatte unter den Beifallsbekundungen sichtlich zu leiden, versuchte aber standhaft zu bleiben und hustete stattdessen heftig. Plötzlich wusste Jan es: Der Glatzkopf war sein Mann! Jan hatte da so ein Gefühl … Ungeduldig wartete Jan, bis der Glatzkopf sein Lachen langsam abebben ließ, sich die Lachtränen von den Wangen gewischt hatte. Jetzt wagte Jan einen Vorstoß: «Tschuldigung. Eeeeeentschuldigung, kann ich dich mal kurz störn?», Jans Stimme zitterte vor Erregung.
Keine Reaktion. Entweder war der Glatzkopf schwerhörig, desinteressiert oder arrogant (oder eine Mischung aus allem). Den Erfolg zum Greifen nah, erhob Jan sich mit einem Ruck und einer gehörigen Portion Adrenalin in den Adern. Direkt neben dem Ohr des Bulligen gab er in entschiedem lauteren Ton von sich: «Tschuldige, kann ich dich mal kurz störn?»,
Der Glatzkopf zuckte zusammen. Sein Kopf fuhr herum. Fast konnte man meinen, er hätte sich erschreckt. Von der eben noch überbordenden Laune war auf jeden Fall nichts mehr zu spüren. Blaugraue Augen starrten Jan hasserfüllt an. Das war die Chance! «Kann ich dich mal eben unter vier Augen sprechen?», sprach Jan hastig. Blitzschnell schoss die Pranke des Giganten vor, legte sich um den Hals von Jan und nagelte ihn auf den Tresen. Und ehe er wusste, wie ihm geschah, steckte die Mündung einer Pistole in Jans Mund. Jan konnte sein Glück kaum fassen. Das lief ja wie am Schnürchen. Mit schielendem Auge konnte er ausmachen, dass die Waffe schwarz war. Sie schmeckte bitter.
«Was willst du mickriger Wurm von mir?», brachte der Glatzkopf sich mit donnernder Stimme in die Unterhaltung ein.
«Ivvch aarg haarrg rraahrg Warrrh hraagh graaah», gab Jan zur Antwort, bestrebt, sein Unterfangen mit ausdrucksstarken Worten zu untermalen. […]
»Zisch ab, Pissnelke!« War klar, dass der Alki keine Luftsprünge machen würde. Es grenzt ja auch an ein Kunststück, einem hoffnungslos Verwahrlosten zu vermitteln, dass er und seine abgehalfterten Mitstreiter in die Recherchen eines nicht unbegabten Schriftstellers eingebunden werden sollen. Ob der versoffene Sack vor meiner Nase überhaupt mitbekommen hat, worum es hier eigentlich geht? Wahrscheinlich hätte ich mir den ganzen Sermon sparen können. Die Wucht seiner Worte lässt mich einen Schritt nach hinten machen.
Hätte mir vor ein paar Jahren jemand erzählt, ich würde zwei Romane veröffentlichen, ich hätte ihn für verrückt erklärt. Auch heute denke ich manchmal noch, ich träume. Ich schreibe schon mein ganzes Leben, so lange ich mich erinnern kann. Ich habe aber immer nur für mich geschrieben; aus dem Grund, die Dinge zu verarbeiten, die einem im Leben so widerfahren (und das ist eine ganze Menge). Nie hätte ich gedacht, dass mein Geschreibsel für andere von Interesse sein könnte. Aber eines Tages haut mich doch dieser Typ im Café an. Ich sitze, wie so oft, über mein Notizbuch gebeugt und fülle es mit eng gedrungenen Buchstaben. Der Typ nennt seinen Namen, den ich sofort wieder vergesse. Es stellt sich heraus, dass er im Freundeskreis einen Verleger hat, der auf der Suche nach jungen unverbrauchten Talenten ist. Ich kann nicht glauben, dass ich in die diese Kategorie falle. Und ohnehin, das sind doch alles bloß leere Worte. Doch gebe ich mir einen Ruck und überlasse dem Typen meine Telefonnummer. Was habe ich schon zu verlieren? Als ich die Begegnung schon längst wieder vergessen habe, klingelt an einem verregneten Montagmorgen das Telefon. Es ist elf Uhr. Das Telefon will sich einfach nicht beruhigen. Mürrisch nehme ich den Hörer ab. Vor zwölf bin ich der Welt nicht zugänglich. Schon gar nicht an einem verregneten Montagmorgen. Ich verstehe nur Bahnhof, habe keine Ahnung, wer am anderen Ende der Leitung ist. Schon möche ich «falsch verbunden» in die Muschel rufen und den Hörer auf die Gabel legen. Im letzten Moment bekomme ich aber noch mit, dass es kein Versicherungsvertreter ist, der mich gerade belästigt. Es ist der Verleger. Mit freundlicher Stimme bittet er mich, ihm doch ein paar meiner Texte zukommen zu lassen. Ich schicke Bernd ein paar meiner besten Manuskripte. Eine Woche später ruft er mich wieder an. Dieses Mal bin ich vorbereitet. Bernd erzählt, ihm hätte ganz gut gefallen, was er da gelesen hätte. Ob ich mir vorstellen könne, das noch ein wenig zu professionalisieren (er benutzt tatsächlich diesen Ausdruck)? Also professionalisiere ich meine Texte. Ein hartes Stück Arbeit. Und ich muss ein paar Federn lassen. Irgendwie ist es dann doch eine Liebesgeschichte (wenn auch keine herkömmliche) geworden. Fast ein ganzes Jahr vergeht, ehe mein Erstlingswerk debütiert. Und das wirklich Unglaubliche passiert: Der Roman kommt ganz gut an! Ich verdiene sogar Geld damit; so viel, dass ich meinen Job in der Pizzeria hinschmeißen kann. Jetzt kann ich mit voll und ganz aufs Schreiben konzentrieren, ohne die lästigen Störgeräusche der Arbeit. Beim zweiten Roman geht dann auch alles schneller und müheloser. Ich habe kapiert, wie man Texte professionalisiert.
Nun ist es an der Zeit, dem dritten Roman Leben einzuhauchen. Ein Roman, der die Wirrungen des menschlichen Geistes und den Niedergang des Individuums beleuchten soll. Ich habe mir alles genau überlegt. Mein Roman soll im Milieu spielen, in dem die Flasche der beste Freund ist. Dort, wo Menschen, an den Rand der Gesellschaft gedrängt, auf verlorenem Posten taumeln, angezählt wie ein Boxer kurz vor dem K.O. Verleger-Bernd wird das gar nicht gefallen. Er wird die Hände über dem Kopf zusammenschlagen – ein weiterer Liebesroman muss her! «Mensch, Olaf, du bist doch deinen Lesern was schuldig«, wird er jammern. «Wenn man erstmal auf einer Erfolgswelle reitet, ist es doch nur natürlich, die nächste Welle zu nehmen. Man fährt doch nicht einfach zum nächsten Strand. Oder noch viel schlimmer: wechselt gleich den Ozean! Absurd! Das geht einfach nicht! Es gibt gewisse Gesetzmäßigkeiten! So läuft das Spiel nun mal!» So in etwa wird Bernd lamentieren. Aber ich bin nicht fähig, einen weiteren Liebesroman nachzulegen. Zweimal habe ich nun schon Teile meiner Seele verkauft. Ein drittes Mal wird das nicht passieren. Jetzt möchte ich über das schreibe, was mich wirklich beschäftigt. Und eben jener Alki, der mich gerade mit seinem Gestank penetriert, soll mir die Tür in die Welt der Abgestürzten und vom Leben Angezählten aufstoßen.
Also, auf ein Neues! »Und wenn ich dir und deinen Kumpels, sagen wir mal, zehn Kisten Bier hinstelle?« Eigentlich wolle ich fünf sagen. Zehn ist doch sehr hochgegriffen. Zum Glück bleibt jegliche Reaktion aus und so schiebe ich schnell nach: «Fünf Kisten Bier.»
»Du hast doch gerade zehn gesagt?«, lallt der Typ. Seine Fahne haut mich fast aus den Latschen.
»Äh, ja … zehn. Zehn habe ich gesagt. Zehn ganze Kisten von dem Zeugs, das Du da gerade in der Hand hältst.«
»Scheiß-Bier«, entgegnet er und schielt auf das Flaschenetikett.
»Na dann eben ’ne andere Sorte.«
»Was hast ’n zu bieten?«
»Na, irgend ’ne andere Marke halt!« Der Typ geht mir echt gegen den Strich. Die Stadt ist voll von Alkis. Bestimmt würde sich jeder die Finger lecken, keine Sekunde zögern, mein Angebot hemmungslos durch die Kehle rinnen lassen. Nur dieses menschliche Wrack vor mir raubt mir die Zeit und den Nerv, macht so ein Trara.
»Beecks?«, lallt er dann doch.
»Geht klar!«, gebe ich wie aus der Pistole geschossen zurück.
»Willst de mich umbringen? So ’ne Plörre! Krieg ich Sodbrennen von«, raunzt er.
»Du hast das doch vorgeschlagen«. entgegne ich gereizt.
»Kleiner Scherz, Pissnelke!» Prustend und hustend dreht er sich zu seinen Kumpanen. Die aufgedunsene Frau im Minirock und zerrissenen Strumpfhosen, die hinter ihm auf dem Mäuerchen gammelt, bemerke ich erst, als sie krächzt: »Franklin, wat will der Schnösel?»
»Dich vögeln!!!«, grölt der Alki, der offensichtlich Franklin heißt, und verfällt in hysterisches Gelächter, das ansatzlos in einen derben Hustenanfall mündet. Erst als er mehrmals auf den Boden speit, sich von einer Menge Schleim und was-weiß-ich-noch-was befreit, schafft er es, nach Luft zu schnappen. Ich hatte schon gedacht, er geht drauf. […]
Er war mir von der ersten Sekunde an unsympathisch, dieser Laffe, mit seinen Schlangenlederschuhen und dem mintgrünen Anzug mit den roten Karos. Unter seiner Nase prangte ein voluminöser Schnauzer und auf der Nase eine violett getönte Brille. Nichts davon fand meine Zustimmung. Seine Art war war genau so affektiert wie sein Aussehen und er rauchte eine Dunhill-Zigarette nach der anderen. Es hatte den Anschein, als wäre von einer niemals weichenden Rauchwolke eingehüllt, die aber leider nicht die Eigenschaft besaß, ihn vor meinen Augen zu verbergen.
Die Party war wirklich gut. Eileen war eine perfekte Gastgeberin. Es gab ein riesiges Buffet, das nur noch von der Auswahl der alkoholischen Getränke übertroffen wurde. Eileen hatte zwei professionelle Barkeeper aus dem Jump angeheuert, die nach Herzenslaune Drinks mischten. Der Renner an diesem Abend war der Black Zombie, mit gutem Whiskey angesetzt. Mike Cameron stand hinter den Plattentellern. Er war Discjockey im Londoner High, einem Nobelclub am Westend, für seine ausufernden Partys bekannt. Eine Menge illustere Gäste waren geladen: Frank und Nancy Sullivan, Keith Freudland, Don Harrington und Jenny Palesander, die erst vor ein paar Tagen die Hauptrolle in einer französischen Filmproduktion erhalten hatte und durch ihre feuerrot gefärbten Haare bestach. Nicht zu vergessen Veil Kennant und Chris Love, besser bekannt als die West Top Boys. Zudem Haufenweise mehr oder minder begabte Schauspieler, oder solche, die sich dafür hielten. Einer davon war ich. Vor einem Jahr hatte ich die Schauspielschule abgeschlossen. Es war kein Leichtes. Um die Schule zu finanzieren, musste ich nebenher in Cafés und Pubs schuften, und jeden Penny, den ich verdiente, floss in meine Ausbildung. Zum Glück konnte ich bei einem Kumpel auf der Couch pennen und sparte mir so die Miete für eine eigene Wohnung. Aber die Miete in der Londoner City kann sich ein Normalsterblicher ohnehin nicht leisten. Man musste es schon zu etwas gebracht haben.
Es war Eileen, die mir den Laffen vorstellte. Er hieß Harold Codiac. Ich gab ihm angewidert meine Hand und versuchte, ein Lächeln auf meinem Gesicht zu platzieren. Er schaute mir in die Augen, hielt meine Hand einen Moment zu lange. «Schauspieler, hmmh?», stellte er fest, «das erkennt man doch gleich.» Die Wahrscheinlichkeit, auf Eileens Partys einem Schauspieler vorgestellt zu werden, lag bei mindestens 75 %. Und die anderen 25 % wollten in dieser Branche tätig sein. «Ich hätte da vielleicht ’nen Job für dich», säuselte der Laffe. Er hatte eine erstaunlich hohe Stimme, die seinen Auftritt noch irrwitziger gestaltete. «Ich nehme an, du hast nächste Woche noch nichts vor, oder irre ich mich?» Ich war plötzlich hellwach. War es denn möglich, dass dieser Clown mir einen Job besorgen konnte? «Kennst du die Band Prefab Sproud?», fragte er, und ohne meine Antwort abzuwarten: «Paddy McAloon ist gerade mächtig am durchstarten. Nächste Woche liegt der Videodreh für die neue Single „The King of Rock ‚N‘ Roll“ an. Wir hätten da noch eine Rolle zu besetzen … Falls du es zeitlich einrichten kannst.» Mein Herzschlag beschleunigte. Um die Wahrheit getreu wiederzugeben, meine Auftragslage war eher mau, genau gesagt, so etwas wie eine Auftragslage war absolut nicht existent. «Ich muss mal einen Blick in meinen Terminkalender werfen», sagte ich, zerrte ein verschlissenes Notizbuch aus meiner Jackentasche. Ich blätterte durch die leeren Seiten und tat so, als studiere ich eine geballte Ansammlung wichtiger Termine. «Is‘ zwar ein bisschen eng nächste Woche» gab ich nach einer angemessenen Zeitspanne mit hoch gezogener Augenbraune von mir, «sollte sich aber irgendwie einrichten lassen.» – «Ich wusste doch, du bist ein guter Junge. Der Dreh findet in Newcastle statt. Wie du da hinkommst, ist deine Sache. Du trägst auf jeden Fall die Kosten. Spesen ist nicht. Wenn du willst, kann ich dir einen Platz im Flugzeug reservieren. Ich fliege 1. Klasse. Soll ich reservieren?» fragte er amüsant lächelnd. Falls er irgendwelche Sympathiepunkte bei mir gesammelt hatte, waren sie auf einen Schlag wieder weg. Newcastle – verflixt, das sind fast 300 Meilen von hier. Dieses Opfer muss ich wohl auf mich nehmen. Der Weg nach oben ist steinig, und weit! Da ich absolut nix auf der hohen Kante hatte, war ein Flugticket absolut utopisch. «Ich bin kein Fan vom Fliegen», log ich. «Ganz wie du willst», antwortete der Laffe gleichgültig, «sei nächsten Dienstag um 10 Uhr in den Metropolitan Studios. Pünktlich. Melde dich an der Pforte. Bring deinen Ausweis mit. Sonst kommst du nicht rein. Wie war doch gleich dein Name?» Ich nannte meinen Namen erneut. Der Laffe entwendete das Notizbuch aus meiner Hand, riß wahllos eine Seite heraus und kritzelte – wie ich annahm – meinen Namen drauf und ließ den Zettel in seiner Jackentasche verschwinden. Siedend heiß fiel mir ein, dass ich gar nicht wusste, welche Rolle ich im Videoclip übernehmen sollte. […]
«Wo ist Mary-Jane?» Beim Sprechen bewegen sich die Lippen Paramatmas kaum. Dennoch sind seine Worte klar und deutlich vernehmbar. Zwölf Frauen und Männer sitzen im Lotussitz auf ihren Matten; keiner von ihnen gibt einen Laut von sich. Vorne, in der ersten Reihe, liegt eine verwaiste Matte und ein einsames Meditationskissen. Hier sollte eigentlich Mary-Jane ihrer morgendlichen Meditationspraxis nachgehen.
«Hätte jemand die liebende Herzensgüte, mir zu verraten, wo Mary-Jane steckt?», schickt Paramatma seine Fragen erneut in den Raum, ohne dabei seinen Blick zu heben. Ob seine Augen geschlossen sind oder hinter gesenkten Lidern vielleicht den Holzboden durchbohren, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen.
Endlich ist ein Räuspern zu vernehmen, dann eine feine Stimme: «Ich glaube, sie ist bei den Jesuiten.» Obwohl die Worte sehr leise gesprochen sind, dringen sie doch tief ins Bewusstsein der anwesenden Frauen und Männer. Die Stimme gehört einem untersetzten Mann, Piri genannt, der die dreißig überschritten hat. Piri erweckt den Anschein, als hätte er vergessen, sich von seinem Babyspeck zu trennen. Sein Haut ist glatt und rosig und mindestens genauso gespannt, wie die Stille, die im Raum herrscht. Man könnte eine Stecknadel fallen hören. Paramatma Stimme bricht die Stille: «Würdest du bitte wiederholen, was du da gerade gesagt hast?»
Piri schwitzt noch etwas mehr als sonst, bringt aber tapfer und ganz ohne Stottern über die Lippen: «Ich sagte, ich glaube, sie ist bei den Jesuiten.«
Aus den Kehlen der Anwesenden entweicht die Luft. Jeder hier hat den Atem angehalten. Aus der letzten Reihe ist ein leises Kichern zu vernehmen, das sofort wieder verstummt. Hätte Piri gesagt, Mary-Jane hatte Sex mit Tieren und sei von der Polizei verhaftet worden, er hätte mit seinen Worten kaum größere Wirkung erzielen können.
Paramatmas Körperhaltung ist weiterhin unverändert, der Blick auf den Boden gerichtet. Falls es in seinem Inneren gärt, ist an seiner Körperhaltung nichts davon abzulesen. Umso überraschender das kurze «So, so, bei den Jesuiten», das er von sich gibt.
Piri, völlig unbedarft, findet gesteigerten Gefallen an der Situation. Das Maß an Aufmerksamkeit, das ihm zuteil wird, lässt ihn sichtlich erblühen und die Tragweite vergessen, die seine Worte hervorrufen. Fast platzt es aus ihm heraus: «Ich hab gestern zufällig ein Gespräch belauscht, wo sie so was in der Art zu Shiradeva sagte.» Jetzt hebt Paramatma den Kopf, schaut Piri direkt in die Augen. Womöglich dringt sein Blick tief in dessen Seele. Sofort schlägt Pirri die Augen nieder, versucht sich zu schützen, verneigt sich, soweit es ihm in sitzender Haltung möglich ist, vor seinem Meister. […]
Ich höre meine Liebste und die zwei Kleinen, wie sie die Stufen in den vierten Stock nach oben stapfen. Ihre Stimmen hallen im Treppenhaus. Sie klingen ausgelassen. Ich stehe in der Küche und bereite das Mittagsessen zu. Heute gibt es Hirse, gedünstetes Gemüse und Tofu; zusätzlich für Jonathan, unseren Jüngsten, und für mich gibt’s Würstchen aus richtigem Fleisch. Meine Frau ernährt sich total gesund, verzichtet vollständig auf Fleisch. Mich kann sie damit nicht überzeugen. Katharina, unsere sechsjährige Tochter, macht Mama natürlich alles nach. Seit einem halben Jahr hat sie keinen Bissen Fleisch mehr angerührt. Sie ist um die armen Tierchen besorgt. Ich mache mir Sorgen um die Gesundheit meiner Tochter. Wir Menschen sind einfach keine Pflanzenfresser. Jonathan mit seinen vier Jahren ist da ganz anders. Er liebt Würstchen. Tofu schmeckt ihm nicht. Mir auch nicht. Wir Männer brauchen einfach was Richtiges zwischen die Kiemen. Jonathan weiß das. Der Schlüssel geht im Schloss.
«Hallo, Schatz», ertönt die Stimme meiner Frau. «Hallo», rufe ich zurück, «ihr kommt gerade richtig. Habt Ihr Milch mitgebracht?»
«Papa, Papa», dringt Katharinas aufgeregtes Stimmchen über den Flur, «wir haben Besuch!»
Komisch, ich hatte gar nicht gehört, dass sie jemanden mitgebracht haben. Vielleicht eine Freundin meiner Frau. «Schön», rufe ich über Kochtöpfe und Pfannen hinweg, «es gibt genug zu Essen. Auch ganz leckere Würstchen aus Rindfleisch. «Iiiiiih», schreit Katharina, während sie in die Küche stürmt und mit ihren dünnen Armen meine Hüfte umschliesst, «du bist ein böser Papa. Aber ich hab dich trotzdem lieb.» Ich blicke auf meine Tochter hinunter, in große blaugraue Augen, die so unschuldig und rein blicken, dass man in ihnen versinken möchte. Meine Frau Angelika mit Jonathan auf dem Arm betreten die Küche und mit ihnen ein junger Mann, der mir gänzlich unbekannt ist. Ich mustere ihn. Er sieht indisch aus. Seine Haut ist dunkel, das Haar pechschwarz, streng gescheitelt und über seinem Mund prangt ein dünner Schnauzer. «Das ist Rajendra», stellt meine Frau den Unbekannten vor, «wir haben ihn gerade vor dem Bioladen aufgegabelt.» – «Rajendra, Rajendra», kräht unser Kleinster. «Aha», entgegne ich und kann mir keinen Reim darauf machen, woher Angelika diesen Menschen kennt und noch weniger, warum sie ihn mit nach Hause geschleppt hat. «Guten Tag, Mister», entgegnet Rajendra mit einer leichten Verbeugung und typischem indischen Akzent, «es freut mich sehr, Sie kennenzulernen.» – «Aber Rajendra», ruft Angelika, «du brauchst meinen Mann nicht zu siezen. Er heißt Michael.» – «Entschuldigen Sie bitte, Miss», entgegnet Rajendra, mit einer leichten Verbeugung meiner Frau gegenüber. Ganz offensichtlich ein Witzbold. Meine Frau beginnt herzlich zu lachen. Jonathan stimmt in das Gelächter mit ein. «Papa, was riecht hier so komisch?» meldet sich Katharina. Ich wende mich dem Herd zu. Dunkler Rauch steigt aus der Pfanne mit den Würstchen auf. «Scheiße», entfährt es mir. «Scheiße, Scheiße, Scheiße», kräht unser Jüngster. Ich nehme die Pfanne von der Herdplatte. Die Würstchen haben eine ungesunde Farbe angenommen. Angelika öffnet das Fenster. «Du Armer», sagt sie zu mir, «du kriegst gerne was von unserem Tofu ab.» Täusche ich mich, oder blitzt da in ihren Augen so etwas wie Schalk auf? «Habt ihr Milch gekauft?», frage ich, versuche meinen Ärger zu schlucken. «Ja, Schatz, haben wir», antwortet meine Frau, «und wir haben dir sogar glutenfreies Bier mitgebracht.» Ich beiß mir auf die Zunge. Jetzt bloß keine blöde Bemerkung machen. «Könnt ihr vielleicht den Tisch decken», sage ich stattdessen, während ich acht arme Würstchen aus der Pfanne in den Mülleimer gleiten lasse. Ich nehme mir vor, heute Nachmittag einen Döner essen zu gehen. […]
Ich fische die überdimensionale Fliege aus meiner Tasse. «Die hat’s erwischt», denke ich, «das arme Tierchen hat sich kopfüber ins Verderben gestürzt.» Jetzt liegt das Insekt regungslos auf der Tischplatte, in einer teuren, wenn auch nicht sonderlich guten Lache Rotwein, streckt alle Achte von sich. Ich stosse einen tiefen Seufzer aus. Der Tod, auch wenn’s nur ein Kleinstlebewesen ist, dessen er sich bemächtigt, lässt mich nie unberührt; führt er doch die eigene Vergänglichkeit vor Augen. Allerdings wage ich zu bezweifeln, dass ich das Glück habe, mein Leben in einem Ozean aus Rotwein auszuhauchen. Wenn ich mir’s recht überlege, hat die Fliege gar kein so übles Ende gefunden. Besser in Cabinet Sauvignon ersaufen, als im Meer (und dann womöglich noch von einem Hai gefressen werden). Meine alkoholgeschwängerten Gedankengänge geben mir ein gutes Gefühl. Ich nehme mir vor, die Fliege nachher im Mülleimer zu beerdigen. Sorgsam wende ich mich wieder meiner Tasse Sauvignon zu. Gerade als ich zu einem großen Schluck ansetze, nehme ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung auf der Tischplatte wahr. Tatsächlich, die Fliege lebt! Ich seufze erneut, dieses Mal vor Erleichterung. Ach, das Leben hat doch auch seine guten Seiten. Ich betrachte das Insekt etwas genauer. Es ist von außergewöhnlicher Größe, schwarz, wie eigentlich alle Fliegen, und nur die Flügel schimmern grünlich. Doch halt, ich sehe da etwas Weißes. Ist das ein Transparent? Ich beuge mich über die Tischplatte. Ja, jetzt kann ich’s erkennen, ein Transparent! Mit einiger Mühe kann ich entziffern, was da In krakeliger Fliegenschrift geschrieben steht: «WARUM». Nur dieses eine Wort. Ich werde stutzig. Eigentlich müsste hinter dem «Warum» ein Fragezeichen stehen. Kritisch beäuge ich das Kunstwerk, kann mir keinen Reim darauf machen. Jetzt wird mit dem Spruchband geschwenkt. Es hat den Anschein, man will meine Aufmerksamkeit gewinnen. Ich halte mein Ohr über die Fliege und deute mit dem Finger auf mein Ohr. Das Insekt scheint zu verstehen. Die ersten Flugversuche gehen schief, die Flügel sind noch zu nass. Nach dem fünften Mal aber hebt sie vom Boden ab und landet in meinem rechten Ohr. Das kitzelt und ich zucke zusammen. Die Fliege schreckt auf, landet aber sogleich wieder. Dieses Mal hat sie einen besseren Platz erwischt. Ich verharrte reglos, warte gespannt auf Nachricht. Zuerst vernehme ich eine Unmenge an Zischlauten, die für mich keinen Sinn ergeben. Nach einer kleinen Weile meine ich zu verstehen: «Warum hasssssssssst du mich ausssss der Tasssssssssse gefissssscht? Ich kann ssssschwimmen, du Idiot!» – «Aha!», denke ich erstaunt, «diese Fliege ist wirklich ein ganz außergewöhnliches Insekt.» Obwohl ich mir ziemlich sicher bin, dass sie elendig ertrunken wäre, hätte ich sie nicht gerettet. «Ich will weitersssssaufen, sssssaufen, sssssaufen, sssssaufen!», zischelt es in meinem Gehörgang. Ich bin erfreut, einen Saufkumpanen gefunden zu haben; einen, der mir unmöglich meine Alkoholvorräte wegtrinken kann. Sofort springe ich auf, hole einen Unterteller aus dem Geschirrschrank, gieße ein wenig von dem Rotwein auf. Ich möchte nicht das Risiko eingehen, dass mein neuer Kollege am Ende doch noch ertrinkt. Die Fliege lässt sich nicht zweimal bitten, stürzt sich aufs Rotweingedeck. Auch ich gönne mir einen großen Schluck. Wir saufen die ganze Nacht, köpfen noch zwei weitere Flasche, ehe es draußen zu dämmern beginnt. Das nächste, an das ich mich erinnerne, es kitzelt mich in der Nase und ich muss niesen. Schuld hat die Sonne, die mir ins Gesicht knallt. Warum liege ich auf dem Küchenfussboden? War da heute Nacht nicht irgendetwasssss mit einer Fliege? Das muss ich wohl geträumt haben. Schwerfällig komme ich auf die Beine, habe Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Mann, ich hab immer noch einen sitzen. Drei leere Weinflaschen auf dem Tisch sprechen eine deutliche Sprache. Mit der Hand stütze ich mich auf der Tischkante ab, es gibt ein schmatzendes Geräusch. Ich schaue auf meine Hand; da klebt eine zerquetschte Fliege. «Ekelhaft», denke ich, streife die klebrige Masse angewidert an meiner Hose ab und wanke Richtung Schlafzimmer.
«Und Sie wollen das hier immer noch durchziehen?»
Der Mann im weißen Kittel und der Nickelbrille fängt an, mir auf die Nerven zu fallen. Zum dritten Mal wirft er nun diese Frage auf. Ich wische seine Bedenken mit einer Handbewegung beiseite. Wie oft will er mich denn noch fragen.
«Ich will», fährt Doktor Simplon mit ruhiger Stimme fort, «dass Sie genau verstehen, worauf Sie sich einlassen. Meine Methode kann Ihnen tiefgreifende Heilung schenken. Wenn Sie aber nicht die nötige Bereitschaft und innere Stärke besitzen, sich mit Ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen, kann es für Sie zu einer schmerzhaften Erfahrung kommen.»
«Zerbrechen Sie sich bitte nicht meinen Kopf! Wir werden das Kind schon schaukeln! Und so schlimm wird’s wohl nicht werden», entgegne ich.
«Das haben schon viele meiner Patienten gesagt. Aber bei etwas mehr als der Hälfte musste das Experiment abgebrochen werden.»
«Aber nicht bei mir! Ich werde Ihre Quote verbessern!», rufe ich siegessicher.
Der Anflug eines Lächeln huscht über das runzelige Gesicht des Mediziners. «Ich sehe, Sie tragen Ihr Herz am rechten Fleck. Das ist eine gute Voraussetzung.»
«Schlagen Sie mich ans Kreuz!»
«Sie können es wirklich kaum abwarten, oder? Doktor Simplon erhebt sich aus seinem Arbeitssessel. «Gut, legen wir los. Wenn Sie mir bitte folgen.»
Wir verlassen das Büro, das bis unter die Decke mit wissenschaftlichen Büchern vollgestopft ist, gehen den langen, weiß gekachelten Korridor entlang. Vor einer Tür mit der Aufschrift «Labor 1» bleiben wir stehen. Doktor Simplon öffnet die Tür. Tiefe Dunkelheit empfängt uns. Wie auf ein geheimes Zeichen springen Neonröhren an. Ich schlucke und weiß nicht, ob ich meinen Augen trauen soll. Wir stehen in einem Raum gigantischen Ausmaßes. Die Deckenhöhe mag mindestens zehn Meter betragen, die Fläche des Raums vielleicht hundert Quadratmeter. Es gibt kein einziges Fenster, durch das Tageslicht eindringen könnte. Stattdessen wirft ein Meer von Neonröhren kaltes Licht von der Decke. Der ganze Raum ist komplett leer, bis auf einen einzigen Gegenstand. Erneut bemerke ich den Klos in meinem Hals. In der Mitte des Raumes prangt ein etwa drei Meter hohes Kreuz. Die ganze Szenerie erinnert mich an einen Science-Fiction-Film. Das Problem: Ich bin der Hauptdarsteller.
«Alles okay bei Ihnen? Sie wirken etwas blass um die Nasenspitze …» Die Stimme Doktor Simplons holt mich zurück in die Gegenwart. Ich möchte ihm antworten, aber kein Ton kommt über meine Lippen.
«Ich habe Ihnen ja von Anfang an gesagt, dies wird kein einfaches Unterfangen. Sie haben noch immer die Möglichkeit das Experiment abzublasen.»
Ich räuspere mich. «Nein», kommt es mir über die Lippen «ich war nur überwältigt. Einen so großen Raum hätte ich nun wirklich nicht erwartet …»
«Wir mussten diese Raumgröße wählen, um die Versuchsanordnung perfekt umzusetzen. Während des Experiments werden mein Assistent und ich hinter der Glasschreibe sitzen und jederzeit freie Sicht auf Sie haben.» Ich schaue mich um. Nirgends ist eine Glasscheibe zu sehen. Plötzlich fährt ein Teil der gegenüberliegenden Wand zur Seite und lässt auf einer Höhe von ungefähr zwei Metern eine spiegelverglaste Fläche zum Vorschein kommen.
«Wundern Sie sich bitte nicht», wendet sich Dr Simplon an mich, «der Raum ist mit einer Vielzahl Mikrofone versehen. Hinter der Glaswand sitzen meine Mitarbeiter und steuern alle Vorgänge in diesem Labor. Während des Experiments werden wir Sie die ganze Zeit im Auge behalten. Zudem werden wir die komplette Sitzung aufzeichnen. Und vergessen Sie nicht: Sie können das Experiment jederzeit abbrechen.»
«Okay», höre ich mich aus weiter Ferne sagen. Meine Selbstsicherheit ist verschwunden. Am liebsten würde ich jetzt sofort diesen Raum verlassen, ins gleißende Sonnenlicht treten und mich in ein Straßencafé setzen und einen Cappuccino bestellen. Doch ich weiß, wenn ich jetzt kneife, dann kann ich mich morgen und auch die nächsten Tage in keinem Spiegel mehr anschauen. Krampfhaft rufe ich mir die Vorteile ins Gedächtnis, die mir entstehen, wenn ich das hier durchziehe. Endlich wäre ich meine Antriebslosigkeit und die chronische Müdigkeit los, die mich seit so vielen Jahren plagen. Das zumindest hat mir Doktor Simplon versprochen. Der Gedanke an ein neues Leben, in dem ich nicht mehr einen Großteil meiner Zeit in der Horizontalen verbringen müsste, lassen «okay, ich bin soweit» über meine Lippen kommen. Doktor Simplon schenkt mir einen Blick, in dem sich Zweifel widerspiegeln. Hätte er mich noch einmal gefragt, ob ich mir sicher bin, dass ich das hier durchziehen wolle, ich hätte mich für Cappuccino und Sonnenschein entschieden. Stattdessen nickt der Mediziner, sagt: «Gut, dann befestige ich Sie jetzt an diesem Kreuz. Sie haben noch im Gedächtnis, dass sich das Kreuz um 180 Grad drehen wird und Sie für die Dauer des Experiments kopfüber hängen?» Ich nicke stumm. Wie hätte ich das vergessen können? Doktor Simplon hat mir versichert, die Versuchsmethoden seien exakt ausgeklügelt und über einen großen Zeitraum konstant weiterentwickelt worden. Jetzt ließen sich optimale Ergebnisse erzielen. Es hinge quasi nur noch von der Bereitschaft und Willenskraft des Probanden ab, ob das Experiment von Erfolg gekrönt werde.
Mein Hände und Füße werden mit Schlaufen am weißen Kreuz aus Acryl befestiget. Zusätzlich bekomme ich einen Riemen um den Bauch gelegt, der für weitere Stabilität sorgen soll. Ich hänge da, wie einst Jesus. Gott sei Dank erspart man mir die Stigmata. «Ich ziehe mich jetzt zurück», dringt die Stimme Dr. Simplons an mein Ohr. «Ich wünsche Ihnen … nun, wie soll ich sagen? … Ich wünsche Ihnen viel Spaß bei der Begegnung mit Ihrer Vergangenheit.» Ich schaue Doktor Simplon nach, wie er den Raum durchschreitet, die Tür hinter ihm ins Schloss fällt. Auf was habe ich mich da eingelassen? Ehe ich mir weitere Vorwürfe machen kann, ertönt ein leises Summen. Das Kreuz beginnt zu vibrieren. Ich spüre, wie ich mich ganz langsam drehe und ganz gemächlich in eine Seitenlage gerate. Nach einer halben Minute habe ich die Endposition erreicht. Jetzt hänge ich kopfüber. Mein Kopf fühlt sich heißt und schwer an. Das ganze Blut, das sich in meinen Venen befand, staut sich jetzt in meinem Kopf. Das kann nicht gesund sein. «Wir schalten jetzt das Licht aus. Viel Erfolg!» ertönt die Stimme Doktor Simplons aus unsichtbaren Lautsprechern. Noch ehe ich etwas erwidern kann, wird meine Welt in tiefe Dunkelheit getaucht. Panik steigt in mir auf. Ich zwinge mich, ruhig zu atmen. Gar nicht so einfach, wenn man kopfüber an einem Kreuz hängt. Ein metallisches Klacken lässt mich zusammenfahren. Zwei Meter vor mir fällt ein schmaler Lichtkegel auf den Boden. Ich bemerke, dass ich nicht mehr alleine bin. Ich hebe meinen Blick, sehe zwei Schuhe, in denen dünne Beine stecken. Ich lasse meinen Blick den Beinen entlang aufwärts gleiten. Das gelbe T-Shirt kenne ich nur zu gut. In großen Lettern prangt da «San Francisco Bay», und die berühmte Golden Gate Bridge ist stilistisch dargestellt. In meiner Magengegend beginnt es zu rumoren. Doktor Simplon hat mich auf diese Situation ausgiebig vorbereitet. Ich hebe meinen Blick noch ein Stückchen weiter, was mich einiges an Mühe kostet. Jetzt kann ich das Gesicht des Jungen erkennen. Ein etwa fünfjährigen Bub, mit mürrischem Gesichtsausdruck und roten, verweinten Augen. Mir bleibt die Luft weg! Nicht, dass ich noch nie einen Fünfjährigen gesehen hätte, nein, das schockiert mich nicht. Aber der Junge, der da vor mir steht, das bin ich! Genaugenommen ich, als ich fünf war!
Doktor Simplon hat mir ausgiebig erklärt, was mich bei diesem Experiment erwarten würde. Aber ich hatte doch Zweifel, wie sich das in der Realität annehmen würde. Das Ergebnis ist überwältigend. Vor meinen Augen stehe wirklich ich. Das ist wirklich kaum zu glauben. Ich versuche einen Ton über meine ausgetrockneten Lippen zu bekommen. Ich habe unendlich Durst. »Hey Mike», krächze ich, «alles klar?» Vermutlich nicht gerade der intelligenteste Satz, den ich je von mir gegeben habe. Die Situation bringt mich aber auch echt an meine Grenzen. Mein Herz schlägt unkontrolliert. Ich habe Angst, dass es aussetzt. Und das alles auch noch kopfüber. Puuuuh! Mike scheint nicht gerade begeistert, sein älteres Ich zu sehen. Sein Gesicht drückt Zorn und Widerwillen aus. Mund und Augen sind zusammengekniffen, die verschränkten Arme verdecken jetzt die großen Buchstaben auf seinem T-Shirt. Damals war das mein Lieblingskleidungsstück. Und es war immer mein Traum, einmal über diese Brücke zu gehen, wenn ich groß bin. Ich nehme mir vor, wenn das hier vorbei ist, dann setze ich das in die Tat um. Als Kind weiß man doch am besten, was man will. Ich kehre zurück in die Gegenwart. Gerne möchte ich dem Kleinen sagen, «Hey, es ist so, so schön, dich zu sehen», traue mich aber nicht, gegen dieses feindselige Abwehrbollwerk anzugehen. So starren wir uns eine Weile schweigend an. Endlich fasse ich mir ein Herz; «Wie geht’s, Kleiner?« Keine Antwort. Er kneift die Augen noch ein Stückchen enger zusammen. Das sieht schon fast komisch aus. «Magst du mir nicht hallo sagen», wage ich einen erneuten Versuch. Er schüttelt den Kopf. Immerhin, eine Reaktion. «Ja, weißt du», hebe ich an, «das ist eine außergewöhnliche Situation. Ich freue mich total, dich…» – «du lügst!», schreit mich mein jüngeres Ich an. Mein Herz trommelt in der Brust und das Blut pocht in meinen Schläfen. «Was sagst du?», flüstere ich völlig verunsichert. «Du lügst!», schreit er erneut, mit der ganzen Kraft, die seine Stimmbänder hergeben. «Aber … Mikey. Was hast du denn?» – «Ich hasse dich!», schreit er. Mir wird völlig bewusst, das hier wird keine einfache Nummer. Verzweifelt krame ich in meinem Gedächtnis, wie man wohl am besten mit fünfjährigen Jungs umgeht, die einem ihren blanken Hass ins Gesicht schleudern. Ich bereue, keine eigenen Kinder und somit auch keine Erfahrungswerte zu haben. Vielleicht wäre es angebracht, dem Kleinen ein Bonbon zu geben? Kinder stehen doch auf Süßigkeiten.«Magst du ein Bonbon, Mikey-Mike?», frage ich zaghaft. Erst da fällt mir wieder ein, dass ich kopfüber am Kreuz hänge und meine Hände unmöglich auch nur in die Nähe meiner Hosentaschen bringe kann. Und ob sich ein Bonbon finden lässt, ist außerdem zweifelhaft. «Was für ein Bonbon? Erdbeere?», höre ich seine Stimme. Klar, er liebt Erdbeerbonbons. Damals waren sie in silbernes Papier gewickelt, auf dem eine saftig rote Beere samt eines grünen Blattes abgebildet war. Ich konnte es nie erwarten, dass glitzernde Papier zu entfernen und das rote Bonbon in den Mund zu schieben. Das war purer Genuss. Unwillkürlich schließen ich meine Augen. «Hast du eins?», holt mich die Stimme meines jüngeren Ichs zurück. «Dein Lieblingsbonbon hab ich leider nicht dabei. Aber schau doch mal in meine Hosentaschen. Bestimmt findest du da was.« Ich ernte einen trotzigen Blick. «Du lügst doch nicht schon wieder?», fragt er mich. «Mikey, ich … habe … kein Erdbeerbonbon. Aber bestimmt findet sich was anderes. Ein Kaugummi, vielleicht …»
«Ich will aber ein Erdbeerbonbon!»
«Mike …»
«Erdbeerbonbon!», schreit er, «Erdbeerbonbon, Erdbeerbonbon, Erdbeerbonbon!»
Mein Kopf droht zu platzen. Lange halte ich das hier nicht mehr durch.
«Schau mal, Mike …», hebe ich erneut an.
«Immer lügst du», brüllt er aus Leibeskräften. Sein Gesicht läuft rot an, gleicht bald der Farbe seines Lieblingsbonbons.
»Mikey-Mike, bitte, versteh doch. Ich …» […]
«Mein Sohn, was kann ich für dich tun?»
«Ich wollte dich einfach mal kennenlernen …»
«So, so …»
«Man hört viel von dir.»
«Ich hoffe, nur Gutes?»
«In der Tat! Die Leute berichten, du bist in der Lage wahre Wunder zu vollbringen.»
«So etwas berichten die Leute?»
«Oh ja! Sie sagen du kannst jegliche Krankheit heilen»
«Das sagen sie?»
«Ja, sie sagen, du hast eine direkte Verbindung zu Gott!»
«Und, was glaubst du, mein Sohn?»
«Nun, ich weiß nicht recht … es klingt sehr ungewöhnlich.»
«Dass Wunder geschehen, bedarf es einer gewissen Offenheit.»
«Stimmt es denn, dass du wirklich jede Krankheit heilen kannst?»
«Ja, mein Sohn! Allerdings gibt es da eine kleine Ausnahme.»
«Interessant …»
«Für ein paar wenige Seelen ist es wichtig, die Erfahrung von Krankheit zu machen. Sie brauchen diese Erfahrung, um eine höhere Bewusstseinsstufe zu erlangen.»
«Kaum zu glauben …»
«Wenn der göttliche Plan es also vorsieht, muss der Mensch, in den die Seele inkarniert hat, mit dieser Krankheit leben. Oder eben sterben. Daran ist leider nicht zu rütteln. Das ist dann der Wille Gottes.
«Ich hatte ja keine Ahnung …»
«Es gibt noch unendlich viel zwischen Himmel und Erde, von dem du keine Ahnung hast, mein Sohn. Aber das alles zu erklären, würde dein Verständnisvermögen überfordern. Außerdem warten vor meiner Tür noch eine Vielzahl Menschen, die alle von ihren Leiden erlöst werden wollen.»
«Ich will dich auch gar nicht weiter belästigen …»
«Schon gut, mein Sohn. Aber nun verrate mir doch: Was ist der wahre Grund deines Besuches?»
«Wie ich schon sagte, ich war neugierig, wer du bist.»
«Keine Krankheit, die es zu heilen gilt?»
«Nein, ich bin gesund.»
«Es liegt mir fern, dich in Angst und Schrecken zu versetzen. Aber ich kann deutlich wahrnehmen, dass mit deinem Körper etwas nicht in Ordnung ist.»
«Wirklich?»
«Es sieht ganz so aus, als gäbe es da im Bereich deines Bauchs ein kleines Problem.»
«Oh!»
«Genau genommen ist das Problem daumengroß. Ein Geschwür. Und nicht von guter Art!»
«Hoppla!»
«Es war eine göttliche Eingebung, die dich zu mir geführt hat.»
«Ich bin überwältigt!»
«Danke Gott, deinem Herrn und Schöpfer auf Knien, dass du den Weg in mein Haus gefunden hast! Du bist vom Glück geküsst! Ich werde nun ein kleines Gebet sprechen, mich mit dem göttlichen Heilstrom verbinden und dann mit der Heilung beginnen. Wenn du es dir vielleicht schon mal auf dieser Liege bequem machen möchtest …»
«Ach, ich glaube das ist nicht nötig.»
«Ganz wie es dir beliebt. Ich kann dich auch im Stehen behandeln.»
«Nein, ich meinte, es ist nicht nötig, dass du mich behandelst!»
«Wie darf ich das verstehen?»
«Ich glaube es ist besser, wir lassen das so, wie es ist.»
«Aber, aber, mein Sohn! Dieses Geschwür kann dich das Leben kosten!»
«Ich werde es herausfinden …»
«Du willst wirklich dein kostbares Leben aufs Spiel setzen?»
«Ich vertraue auf Gott.»
«Das ist gut! Das ist sehr gut, mein Sohn! Auf Gott vertrauen ist das Beste, was du tun kannst! Aber jetzt, wo du schon mal hier bist, auserkoren vom Schicksal, darfst du die Gnade göttlicher Heilung erfahren …»
«Sehr entgegenkommend von dir. Aber ich denke, ich werde jetzt gehen.»
«Sei nicht törricht!»
«Vielen Dank für deine Zeit»
«Das Geschwür! Es wird dich umbringen!»
«Wenn es Gottes Wille ist …»
«Schweig! Was soll dieses altkluge Geschwafel? Der Heiler bin ja wohl immer noch ich hier!»
«Ich wünsche dir von Herzen alles Gute!»
«Du wirst nicht durch diese Tür treten!»
«War wirklich schön bei dir.»
«Halt! Bleib sofort stehen, du Narr! Keinen Schritt weiter!»
«Wir sehen uns bald mal wieder …»
«Halt, sage ich, in Gottes Namen!»
«Tschüsschen.»
«Himmel, Arsch und Zwirn – fahr zur Hölle!»
Ja, ja … so kann es gehen.
Was will uns diese kleine Geschichte sagen?
Vielleicht das: Wer heilen will, muss noch lange nicht heilig sein!
Und vielleicht sogar auch dies: Es ist nicht immer klug, wenn wir wünschen, wie durch ein Wunder von unserer Krankheit befreit zu werden. Machmal reifen wir durch Krankheit, nehmen erst dann wahr, wie kostbar jeder einzelne Moment unseres irdischen Daseins ist. Bevor wir die Diagnose erhielten, haben wir uns vielleicht über Kleinigkeiten geärgert, uns über dieses und jenes echauffiert und unsere Zeit mit Nichtigkeiten verplempert. Kaum haben wir aber erfahren, dass wir vielleicht nicht mehr ewig zu leben haben, erkennen wir meistens schon in den ersten fünf Minuten, welchen Banalitäten wir unser ganzes Leben hinterherjagten. Erst wenn uns bewusst wird, dass das Leben endlich ist, und wir beginnen, den Tod mit einzubeziehen, ihn sozusagen in unser Leben einladen, erst dann fangen wir an, wahrhaft zu leben. Dein Leben ist kostbar, dein Leben ist lebendig, dein Leben ist heilig.
Schweigend sitzt sie neben mir. Ihr Blick ist auf die Landschaft vor dem Fenster geheftet, die eintönig in der Abenddämmerung vorbeizieht. Ich berühre sacht ihr Knie, während der Bentley mühelos auf der linken Spur dahingleitet. Sie reagiert nicht. Ich schalte das Radio an. Aus den Boxen ertönt ein Lied aus unbeschwerten Tagen. Ich hatte gehofft, sie würden ihren Kopf zu mir wenden, mich mit flehenden Augen bitten, das Radio abzustellen, wie sie es schon manches Mal tat. Sie mag keine lauten Geräusche und starrt doch unverwandt aus dem Fenster, als gäbe es nichts anderes auf dieser Welt. Der Refrain setzt ein. Ich drehe den Lautstärkeregler höher, singe mit: Juliet, oh Juliet, the night was magic when we first met. Meine Laune hebt sich augenblicklich. An ihren hochgezogenen Schultern kann ich wahrnehmen, wie die Töne ihr körperliche Schmerzen bereiten. Ich fühle mich leicht – bis ein Moderator mit überdrehter Stimme seine Wortsalve ins Lied schießt. Eine Welle der Wut erfasst mich und ich stelle das Radio ab. Ihre Schultern sinken nach unten und ihr Körper entspannt sich. Ich fühle mich klein und ohnmächtig. Mein Magen zieht sich zusammen, in meinem Mund schmeckt es säuerlich. Mein rechter Fuß steigt plötzlich aufs Bremspedal. Wir werden nach vorn geschleudert, dann in unsere Sitze gedrückt. Hinter mir ertönt ein langgezogener Hupton. Ich strecke meinen Mittelfinger in den Rückspiegel und setze den Fuß aufs Gaspedal. Der Bentley beschleunigt nahezu lautlos. Die Tachonadel wandert. Wir fliegen über die Autobahn. Der Hersteller misst diesem Fahrzeug eine Höchstgeschwindigkeit von 333 Stundenkilometer bei. Fast hat es den Eindruck, die Fahrzeuge auf der rechten Spur wären unbewegte Hindernisse. Was macht der LKW auf der linken Fahrspur? Sonntagabend! Ist der wahnsinnig? Im letzten Moment reiße ich das Lenkrad nach rechts. Haarscharf schießen wir an dem Ungetüm vorbei und mit einem weiteren waghalsigen Manöver schaffe ich es gerade noch, einem roten Kleinwagen auszuweichen. Wir knallen gegen die Leitplanke, werden zurück auf die Standspur katapultiert. Ich drücke das Bremspedal durch. Die Reifen antworten mit einem schrillten Ton. Wie durch ein Wunder gelingt es mir, den Bentley auf der Straße zu halten. Die Konstrukteure dieses Autos haben wirklich ganze Arbeit geleistet. Nach dreihundert Metern ist der Alptraum vorbei. Der Bentley stösst einen letzten Seufzer aus und wir kommen zum Stillstand. Mein Atem geht schnell, der Schlag meines Pulses bearbeitet mein Gehirn infernalisch. Bevor ich nach Luft schnappen und mich freuen kann, dass uns nichts weiter passiert ist, reißt sie auch schon die Beifahrertür auf und gleitet aus dem Auto. Ich hatte nicht bemerkt, wie sie ihren Gurt gelöst hat. Mit katzenartiger Geschmeidigkeit springt sie über die Leitplanke und ihre Füße treffen auf grobschllächtige Erde. Ich nestle hektisch an meinem Gurt. Erst nach einer halben Ewigkeit springt das Scharnier auf und gibt mich frei. Ich stürze aus dem Bentley und finde mich auf kaltem Asphalt wieder. Als ich das Auto umrundet habe, sehe ich sie in einiger Entfernung auf das Waldstück zurennen. Fast hat es den Anschein, als flöge sie über den kargen Ackerboden. Ich wuchte meinen Körper über die Leitplanke und nehme die Verfolgung auf. Ich wünschte, ich hätte meinen Körper besser in Schuss gehalten. Meine neuen Wildlederschuhe liefern mir auch keine großartigen Dienste. Ich stolpere vorwärts, versuche das Maximum aus meinem Körper zu holen. Sie ist schnell, unglaublich schnell. Ich weiß nicht, woher sie die Kraft aus ihrem schmächtigen Körper nimmt. Ihr Vorsprung wird größer und größer. Schon hat sie die ersten Bäume erreicht. Ich stolpere und lande bäuchlings auf der Erde. Ich habe keine Zeit, mich zu wundern, woher der Spaten kommt. Als ich wieder auf meinen Füßen stehe, kann ich gerade noch erkennen, wie sie im Wald verschwindet. Keuchend halte ich Kurs auf das Waldstück. Als ich endlich die ersten Bäume erreiche, bin ich fix und fertig. Ich kämpfe gegen den Würgereiz an. Mit einem großen Schwall ergießt sich der Inhalt meines Magens auf die nackte Erde. Erst jetzt bemerke ich, dass es in Strömen regnet. Mein Hemd klebt am Körper. Ein Blitz durchschneidet den Himmel, begleitet vom tiefen Grollen des Donners. Ich genieße den Regen auf meinem Gesicht. Die kalte Dusche weckt meine Lebensgeister und der Bentley fällt mir ein. Was, wenn nun jemand … Ach, zum Teufel mit der Karre. Eigentlich hatte ich das Ding ohnehin nur wegen Lydia gekauft. Ihr waren solche Statussymbole wichtig. Wie lange ist es her, dass sie mich verlassen hat? Sind es drei Wochen? Oder ist es schon viel länger her? Völlig egal. Es spielt überhaupt keine Rolle mehr. Ohnehin war unsere Ehe zum Scheitern verurteilt. Schon lange bevor sie wie aus dem Nichts aufgetaucht ist. Eines morgens saß sie plötzlich am Rande unserer Terrasse, auf dem nackten Boden. Es war an einem Freitag, Anfang September. Die ersten Anzeichen des Herbstes waren erkennbar, die Temperaturen hatten sich merklich abgekühlt. Ich erschrak, als ich sie durch die Glasscheibe auf dem Boden sitzen sah. Kurz hielt ich sie für einen Geist. Ihr Kleid, dass früher einmal weiß gewesen sein musste, war mit Blättern und allerlei Unrat der Natur garantiert. Unter der Schicht aus Dreck kam bleiche, wächserne Haut zum Vorschein, das blonde Haar verfilzt und über und über mit dem, was auf dem Boden des Waldes liegt, versehen. Sie saß einfach da,, neben dem steinernen Engel mit der Harfe in der Hand, als würde sie hierher gehören. Nachdem ich mich vom ersten Schrecken erholt hatte, ließ ich behutsam die Tür zur Terrasse zur Seite gleiten und trat vorsichtig auf den weiß marmorierten Boden. Keinesfalls wollte ich sie erschrecken. […]