«Ich hab dir doch gleich gesagt, der Typ ruiniert alles!» Coman lehnt mit verschränkten Armen an seiner Harfe. Die Worte sind an Edualdo gerichtet, der mit hängenden Flügeln am Rande der mittelgroßen Wolke sitzt und gedankenverloren auf die Erde schaut, die da, ganz weit unten, in ihren Abgründen schlummert.
Edualdos Brust entrinnt ein tiefer Seufzer und er flüstert: «Das war Pech …»
Comans Hals streckt sich, wie der eines Schwanes und seine Stimme hebt sich: «Pech? Das nennst du Pech? Unfähigkeit nenne ich das! T-o-t-a-l-e U-n-f-ä-h-i-g-k-e-i-t!»
«Du übertreibst …», wendet Edualdo mit schwacher Stimme ein.
«Ich, übertreiben? Nein, wertester Edualdo! Ich spreche lediglich die Wahrheit aus!»
«Die Wahrheit«, seufzt Edualdo, «die Wahrheit ist ein zartes Pflänzchen. Man erkennt sie oft nicht auf den ersten Blick. Man muss sich ihr vorsichtig nähern, sie drehen und wenden und ganz genau hinschauen. Und das haben wir getan.»
«Ihr dreht euch! Und zwar im Kreis! Man könnte glatt meinen, das gesamte 2. Department der III. Himmelssektion Nord-Ost hätte keine Augen im Kopf!», zischt Coman, «ihr hättet auf mich hören sollen!»
Edualdo ist erstaunt, dass ihm Comans Ähnlichkeit mit einem Schwan nicht schon viel früher aufgefallen ist. Das weiße Leibchen, dass er am Körper trägt, der lange Hals, die großen, stellenweise ergrauten Flügel … Vermutlich sehen hier oben alle wie Schwäne aus. Der ganze Himmel, ein Heer voller Schwäne. Fast muss Edualdo schmunzeln. Im gleichen Augenblick aber wird ihm der Ernst der Lage bewusst und die alte Schwermut überkommt ihn wieder. «Wie konnte das nur schief gehen», denkt er sich, «wir hatten doch alles haargenau geplant.» Comans zischelnde Stimme reißt ihn aus seinen Gedanken: «Nun, bester Edualdo, was hast du zu deiner Verteidigung vorzubringen? «Ach herrje! Nun sitze ich schon auf der Anklagebank«, denkt sich Edualdo traurig, «ein Engel auf der Anklagebank. Wohin soll das nur führen?» Er stösst noch einmal einen tiefen Seufzer aus, sammelt sich und spricht mit schleppender Stimme: «Also hör mir zu, Coman. Ich will versuchen, dir eine Erklärung abzugeben. Wie du weißt, lassen wir Lennert seit nunmehr zwei Jahren und vierzehn Tagen beobachten. Lennert ist einer von 1.213 Kandidaten des kleinen Planeten da unten, die es in die engere Auswahl geschafft haben. Wir haben alle, wirklich alle Kandidaten, auf Herz und Nieren geprüft, die Gehirnströme vermessen, ihre DNA auseinandergenommen, ihre Träume analysiert und ausgewertet und dergleichen mehr. Und natürlich haben wir die Spermienqualität überprüft. Lennerts Spermien sind äußerst aktiv! Und wir haben Lennerts Ahnenreihe zurückverfolgt! Lennerts Stammbaum lässt darauf schließen, dass er tatsächlich ein Nachfahre Jesu ist. Wir haben das wirklich akribisch überprüft.»
«Ein Nachfahre Jesu! Dass ich nicht lache!», keift Coman. «Lennert ist ein unverbesserlicher Träumer, ein Tolpatsch, wie in die Welt noch nicht gesehen hat! Ehe geht ein Kamel durchs Nadelöhr! Ein hoffnungsloser Fall!» Und einem plötzlichen Einfall folgend: «Wie viele Schutzengel hat er doch gleich verschlissen? Waren es einunddreißig, oder gar zweiunddreißig?»
«Dreiunddreißig«, flüstert Edualdo.
«Ich kann dich nicht verstehen, Edualdo! Sagtest du dreiunddreißig? Drei-und-drei-ßig? Mannomann!»
Edualdos Herz wird schwer. So schwer, dass es ihn beinahe über den Rand der Wolke zieht. Coman spricht da einen wunden Punkt an. In der Tat: Lennert hat sage und schreibe dreiunddreißig Schutzengel verschlissen. Es wird von mal zu mal schwerer, einen Schutzengel für Lennert aufzutreiben. Kein Engel verspürt die Lust, sich ständig in akute Gefahr zu begeben. Inzwischen hat sich das im gesamten Himmel herumgesprochen. Die Gehaltskosten, die das 2. Department der III. Himmelssektion Nord-West für die Schutzdienste für Lennert bewilligen muss, erreichen zwischenzeitlich astronomische Höhen. Der neue Schutzengel, Nummer dreiunddreißig, der sich – wenn auch nur widerwillig – des Schutzes von Lennert annimmt, lässt sich seine Dienste teuer bezahlen. Ein wahrer Söldner. Eduardo will lieber nicht daran denken, was passiert, wenn auch dieser Schutzengel an der Schwere der Aufgabe scheitert.
«Edualdo, wo schwirrst du mit deinen Gedanken gerade rum? Träumst du?», reißt ihn Comans Stimme aus seinen Grübeleien.
Eduardo blickt auf, muss sich anstrengen, seine ganze Kraft bündeln, Coman Paroli zu bieten: «Wir hatten einen perfekt ausgeklügelten Plan. Wir hatten alles genau berechnet, jedes noch so winzige Detail bedacht.»
«Edualdo, du bist ein Träumer! Ganz so, wie dein toller Kandidat. Was dem nicht immer alles passiert! Lennert läuft gegen Laternenpfähle, Lennert brennt seine eigene Bude ab, Lennert fällt von der Leiter, Lennert stolpert über seine Schnürsenkel, Lennert fällt in den Fluss, Lennert wird vom Hund gebissen, Lennert lässt …
«Bitte, Coman, sei still», fällt Edualdo ihm ins Wort. Edualdos Niedergeschlagenheit hat einen neuen Tiefpunkt erreicht. Und er spürt Ärger in sich aufsteigen. Comans zynische Art kennt er nur zu gut. Aber nicht sie ist der Auslöser für seinen Ärger. Sein Ärger gilt nicht Coman. Er selbst ist es, über den er sich ärgert. Er macht sich große Vorwürfe. Wie oft hat er selbst schon an Lennert gezweifelt! Aber die ganzen Messungen und Untersuchungen. Sie haben zu einem eindeutigen Ergebnis geführt! Lennert erfüllt alle Voraussetzungen. Die unzähligen, wie auch aufwendigen und kostspieligen Messungen, hatten ganz eindeutig ergeben: Lennert ist bestimmt, seinen Samen zur Zeugung des neuen Heilbringers auf Erden zu spenden. Am 24. November 2020 sollte der Erlöser der Menschheit in der Hauptstadt Deutschlands das Licht der Welt erblicken. Nach dem tragischen Vorfall müssen nun alle Hebel in Bewegung gesetzt werden, um das Geburtsdatum des Heilbringers einzuhalten. Eine Schwangerschaft dauert nun mal neun Monate. Gut, ein paar Tage, da kann man dran drehen. Aber es wäre nicht auszudenken, was passiert, wenn das Datum nicht eingehalten werden kann, wenn Lennert erneut versagt. Und ja, Herrgott nochmal, Coman hat Recht! Die Probleme, die der Himmel mit Lennert hat, sind in der Tat nicht zu übersehen. Er ist wirklich ein seltsames Exemplar der Gattung Mensch. Gutherzig, aber tollpatschig. Das weiß das 2. Department der nördlichen Himmelssektion nur zu gut. Jeder Punkt und jede Eigenart Lennerts wurde ausführlich bedacht. Seit nunmehr zwei geschlagenen Jahren arbeiten dreiundzwanzig Engel und zwei Aushilfsengel Tag und Nacht daran, den perfekten Plan zu entwickeln, wie Lennert mit Nila Nordström intim werden kann. Fast wäre es so weit gewesen, wäre da nicht … «Gütiger Himmel», entfährt es Edualdo, «wie viel Pech kann man aber auch haben?» […]
«Du siehst mitgenommen aus, Steve.» Ron blickt mich mit mitfühlenden Augen an.
«Kann sein», gebe ich knapp zur Antwort.
«Willst du mir erzählen, was passiert ist?» Ron ist mein einziger Vertrauter in dieser Welt. Zwar ist er ein wenig einfältig, aber das macht ihn auch zu dem Menschen, dem ich mein Vertrauen schenke. Er würde mich nie hintergehen oder verraten. Das würde ihm nie in den Sinn kommen. Und wenn man heutzutage überleben will, ist das von größter Wichtigkeit. «Ich … ich habe gegen die Regeln verstossen», kommen die Worte schwer über meine Lippen. Ich spüre Erleichterung. Der Anfang ist gemacht. Ich werde alles erzählen: «Ich habe aus dem Fenster geschaut.»
Rons Augen, die immer so viel Mitgefühl ausstrahlen, treten beinah aus den Höhlen. «Du hast was? Sag, dass das ist nicht wahr ist!»
«Ich habe aus dem Fenster geschaut», wiederhole ich. Die Tragweite meines Vergehens dringt wieder in mein Bewusstsein.
«Aber alle Fenster sind doch mit diesem komischen Zeug versehen, dass es unmöglich macht, nach draußen zu blicken.
«Bretox, Ron, das Zeug heißt Bretox. Ich habe einen Weg gefunden, es unschädlich zu machen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie hell es da draußen ist … Ich bin fast blind geworden.»
«Wie hast du dieses Bre .. Bretox vom Fenster abbekommen?»
«Das erzähle ich dir ein andermal, Ron …»
«Warum nimmst du so ein Risiko auf dich, Steve?» Die Fragen nehmen kein Ende.
«Es ging ja nochmals gut …»
«Woher weißt du, dass sie dir nicht schon auf den Fersen sind?»
«Bis jetzt lassen sie mich jedenfalls in Ruhe», erwidere ich mit leichter Gereiztheit in der Stimme.
«Du riskierst dein Leben? Einfach so?»
«Es musste sein, Ron.»
«So, so … es musste sein …»
Ein Pause entsteht. Schließlich kommt von Ron zögerlich die Frage: »Wie lange, Steve, wie lange hast du aus dem Fenster geschaut?»
«Nun … ja … dreißig Minuten vielleicht …»
Ron springt vom Stuhl. «Dreißig Minuten? Hast du völlig den Verstand verloren?» Seine Stimme ist hysterisch und er fuchtelt mit den Armen.
«Vielleicht war es auch wenige Minuten mehr …», füge ich hinzu, auch um zu sehen, ob sich Rons Hysterie noch steigern lässt.
Ron entweicht die Luft und sein Gesicht verliert jegliche Farbe. Schwer plumpst er auf den Stuhl. «Du bist total irre, Steve! Und lebensmüde noch dazu!» Ron vergräbt das Gesicht in den Händen. Ich starre auf den Boden. «Ich … ich konnte mich nicht losreißen. Er ist so schön», flüstere ich.
«Schön», echot Ron, wie aus weiter Ferne, noch immer die Hände vor dem Gesicht, «wer ist schön?»
«Der Baum, Ron, der Baum. Er ist wunderschön. Er hat meinen Blick gefangen genommen.»
Ron nimmt die Hände vom Gesicht. Ich darf beobachten, wie sich seine Stirn in tiefe Falten legt. Mann kann förmlich sehen, wie sein Gehirn auf Hochtouren arbeitet. Plötzlich fährt er vom Stuhl. «Baum? Hast du Baum gesagt?
«Ja, Ron, ich habe Baum gesagt.»
«Moment mal, Steve! Es gibt keine Bäume! Schon seit vielen Jahren nicht mehr!»
«Doch, Ron, es gibt sie. Vor meinem Fenster steht einer. Ein Prachtexemplar geradezu …»
«Wie … wie kommt es, dass sie gerade den Baum vor deinem Fenster übersehen haben? Alle anderen Bäume sind vor langer Zeit verschwunden»
«Ich hatte ihn mit einem gelben Band umwickelt.»
Rons Augen ist deutlich abzulesen, das ihm das Verständnis für meine Geschichte nun völlig abhanden gekommen ist. «Wo in aller Welt hast du ein gelbes Band her? Gelbe Bänder gibt es genauso wenig wie Bäume»
«Tückler! Tückler gab es mir seinerzeit.»
«Tückler?» Das war nun wirklich zu viel für den armen Ron. Ein schrilles Lachen entfährt ihm, «Ha, haa, ha, … Tückler» Abrupt hält er inne, und ich kann deutlich sehen, wie sein Gehirn die Vielzahl unglaublicher Informationen in Zusammenhang zu bringen versucht.
«Du musst dich stellen, Steve! Stell dich, bevor sie dich kriegen. Wenn du ihnen Informationen über Tückler zuspielst, dann lassen sie dich vielleicht mit dem Leben davon kommen.»
«Ach, Ron, du siehst die ganze Sache zu pessimistisch. Ich hätte dir nicht davon erzählen sollen …»
«Tückler, der Staatsfeind», murmelt Steve niedergeschlagen, «… in Kategorie E eingestuft. Sie würden weiß ich nicht was geben, wenn sie ihn zu fassen bekämen.
«Sie werden Tückler nicht kriegen», erwidere ich. «Er benutzt noch immer die Runen. Und du weißt, wie gut er mit ihnen umzugehen weiß!»
«Das mag ja sein, Steve, aber eines Tages wird er einen Fehler begehen, einen kleinen Fehler nur, und dann werden sie ihn kriegen. Sie werden ihn ganz sicher kriegen. Das is so sicher, wie …»
«Der Baum … er hat mich nachdenklich gemacht«, falle ich Ron ins Wort.
«Ha», schreit Ron auf, «da haben wir’s! Genau das ist der Grund, weswegen sie alle Bäume eliminiert haben! Diese blöden Gewächse stimmen einen nachdenklich. Und das ist nicht gut, Steve, das ist ganz und gar nicht gut …»
«Der Baum hat mit mir kommuniziert. Zwar hat er nicht wirklich gesprochen, aber in meinem Kopf formten sich deutliche Bilder.»
«So ein Mist, Steve! Es hat sich wirklich nichts geändert. Diese Bäume sind wirklich das Letzte!»
Ich gehe nicht auf Rons Gejammer ein. «Ich sah Bilder früherer Zeiten, lange bevor sie die Herrschaft übernommen haben. Und da gab es überall Bäume. Es gab sogar mehr Bäume als Menschen. Kannst du dir das vorstellen? Mehr Bäume als Menschen. Und weißt du, was ich noch gesehen habe, Ron?» Ich warte nicht auf eine Antwort. «Sie haben riesige Gärten angelegt, unvorstellbar große Gärten, dort draußen vor der Stadt. Und dort gibt es alle Arten von Bäumen; Linden und … von vielen Bäumen kenne ich nicht mal den Namen.» […]
Als die Sonne hoch am Himmel stand, war ich schon bei ihr. Wir liebten uns mehrere Male. Nach einer Zeit fragte sie, ob sie etwas Gebäck auftun solle. Sie könne auch Kaffee auf den Boden gießen. Ich lachte und fühlte mich recht wohl. Als wir am Tisch saßen, verspürte ich ein Gefühl des Hungers und so probierte ich von dem köstlichen Gebäck. Ein paar Krümel blieben mir im Bart hängen. Das sorgte für Erheiterung. Nicht viel später sagte sie, sie würde jetzt wieder ins Schlafgemach gehen, und ob ich denn mitkäme? Ich sagte, ich müsse noch kurz über etwas nachsinnen, es sei recht wichtig. Ich solle nicht zu viel denken, dass würde nur die Haare grau machen. Sie drückte mir einen Kuss auf die die Stirn und zog sich zurück.
Ich verspürte den Drang nach draußen zu gehen, zog meinen Wams an, schnappte mein Bündel und trat vors Haus in den Sonnenschein. Da sah ich ein junges Mädel am Zaun stehen. Sie blickte mich mit großen rehbraunen Augen an. Hei, sie gefiel mir recht gut und ich fragte sie, wie sie heiße. Sie lachte und senkte den Blick. Zum Boden sprach sie, ob ich vielleicht ein Stück Kuchen haben wolle? Sie hätte gerade welchen gebacken. Ich nickte und wir gingen Seite an Seite, doch nicht viele Schritte, denn sie bewohnte mit ihrer Mutter das Nachbarhaus. Sie bat mich herein. Der Kuchen war köstlich und ich aß einige Stücke. Irgendwann hatte ich genug und so sagte ich, ich müsse weiter. Über ihre Augen legte sich ein Schatten und draußen fiel bereits die Dämmerung ein. Ich käme wieder, versprach ich und bedankte mich artig für den Kuchen.
Draußen wusste ich nicht recht, in welche Richtung ich mich wenden solle, entschied mich dann für die rechte Seite, weil das Bündel auf meinem Rücken schwer war und mich nach rechts zog. Nicht weit und ich sah einen Bauer am Wegesrand, der grüßte. Ich verbeugte mich und als ich vor ihm stand, sagte er, ei, wenn haben wir denn da? Doch nicht etwa einen hungrigen Gesellen? Ob ich nicht eine Kleinigkeit zu mir nehmen wolle? Ich könne doch wohl nicht mit flauem Magen meinen Weg fortsetzen. Ich pflichtete ihm bei und ehe ich mich versah, sah ich in seiner Stube am Tisch. Seine Frau schien erfreut über den unerwarteten Besuch und tat gleich Kartoffeln und verschiedene Sorten an Fleisch auf. Besonders mochte ich die Ochsenschwanzsuppe leiden, die mit viel Petersilie serviert wurde. Als ich durchs Fenster blickte, konnte ich nichts sehen, denn es war inzwischen dunkel geworden. Ich stand auf und sagte, ich müsse jetzt gehen. Der Bauer und seine Frau bedauerten dies sehr und ließen mich nur sehr ungern ziehen. Ich entschuldigte mich und ließ sie wissen, dass ich gedenke, heute noch sieben Meilen zurückzulegen, und dann für die Nacht einkehren werde. Sie gaben mir noch etwas Proviant und eine Laterne mit. Das empfahl sich sehr, denn die Nacht war ohne Licht.
Ich war noch nicht einmal zweihundert Schritte gegangen, als ich auf ein hell erleuchtetes Haus traf. Als ich näher kam, sah ich, dass es ein Wirtshaus war. Neugierig steckte ich meine Nase in die Stube. An einem großen runden Tisch am Kamin saß ein alter Mann mit weißem Bart aber ohne Haare auf dem Kopf, vor sich eine Karaffe mit rotem Wein. Unter seinem Stuhl lag ein Kater, der sich gemächlich räkelte und streckte. Der Mann schaute mich freundlich an und ich beschloss, mich zu ihm an den Tisch zu setzen, was ausdrücklich erwünscht zu sein schien. Kaum hatte ich mich vorgestellt, kam der Wirt und eröffnete mir, dass er um diese Zeit eigentlich schon geschlossen habe. Da seine Frau aber heute mit starken Nackenschmerzen das Bett hütete, wäre seine Arbeit noch nicht getan und er tischte mir sofort einen Schweinsbraten auf und stellte auch eine Karaffe roten Weines dazu. Ich goss dem Mann mit dem weißen Bart aber ohne Haare auf dem Kopf ein, ehe ich auch mir den Krug bis zum Rande füllte. Wie sich herausstellte, war der Mann ohne Haare auf dem Kopf aber mit Bart Ministerialrat und hatte einen schweren Tag hinter sich. Eigentlich seien alle Tage recht unbequem. Die Zeit verginge so langsam, wenn er im Amt weile und die vielen Entscheidungen, die er treffen müsse, würden ihm Kopfzerbrechen bereiten. Da helfe nur der Wein. Der verschaffe ihm sofort Linderung. Er füllte seinen Krug und bestellte eine neue Karaffe. Ich aß tüchtig und lauschte den Geschichten meines Tischnachbarn, dessen Stimme vor lauter Trunkenheit immer unverständlicher wurde, bis er schließlich mit dem Kopf auf die Tischplatte sackte und sofort das Schnarchen anfing. Das machte auch mich augenblicklich müde. Der Wirt meinte, ob ich ihm helfe könne, den Herrn Ministerialrat nach oben zu tragen, er hätte dort ein Zimmer für ihn. Auch mir könne er, ein, wenn auch nur kleines Zimmerchen unterm Dach anbieten, wenn ich wolle. Ich dachte, es sei eine gute Idee und so trug ich die Beine des Ministerialrats, die in grauen teuren Beinkleidern steckten, die Treppe hinauf, während der Wirt ihn an den Schultern packte. Ob angekommen wies er mir eine Tür und wir wuchteten den Schlafenden auf ein Bett mit frischen weißen Spannbettlaken. Mein Zimmer war noch ein Stockwerk höher gelegen. Der Wirt wünschte mir eine gute Nacht und sagte, ich solle mir keine Sorgen wegen der Bezahlung machen, da er Gefallen an mir fände, und froh war, dass ich bei ihm Quartier bezog. Ich bedankte mich und erklomm die schmale Stiege zum meiner nächtlichen Bleibe. Sie war recht gemütlich, wie ich feststellte und durch das geöffnete Fenster konnte ich gar die Sterne funkeln sehen. Ich legte mich aufs Bett und schlief innerhalb Sekunden ein.
Als ich wieder erwachte, war es noch immer dunkel. Ich schaute auf meine Uhr und stellte fest, dass ich gerade einmal zwei Stunden geschlafen hatte. Ich stand auf und schlich mich leise die Stiegen hinunter, bis ich vor der Tür der Küche stand. Leise drückte ich den Griff nach unten und tastete mich an der Wand entlang. Zum Glück fand ich schnell eine Öllampe, als auch Streichhölzer, sie zu entzünden. Sogleich tanzte der Lichtschein der Lampe lustig an der Decke und ich sah in der Ecke einen Topf mit einem Deckel versehen und bunten Verzierungen. Ich wunderte mich und dachte, hei, was für ein schöner Topf, ob ich wohl einen Blick hineinwerfen solle? Und so ging ich hinüber zu dem Topf, lüftete den Deckel und sah, dass sich in seinem Inneren frischer Schweineschmalz befand. Der duftete gar köstlich und ich aß ein wenig davon. Zudem entdeckte ich noch ein paar Kartoffeln auf der Anrichte und ein Fässchen mit Blutwurst, an dem ich mich ebenfalls gütlich tat. Nach einer Weile aber hatte ich genug und ich dachte, ich könne mir vor der Tür ein wenig die Beine vertreten.
Draußen merkte ich, es war frisch geworden. Bis der Tag anbrach, würden noch gut zwei Stunden vergehen. Gerade wollte ich wieder ins Haus zurück, als mir ein lieblicher Geruch in die Nase stieg. Ich lief in die Richtung, von wo der Duft kam, stellte aber plötzlich fest, dass ich am Rande eines großen Feldes stand, auf dem Erdbeeren wuchsen. Ich musste sie mehr mit den Händen fühlen, als ich sie sehen konnte, weil es eine mondlose Nacht war. Ich pflückte eine Handvoll und schob sie mir in den Mund. Sie schmeckten köstlich. Ihr Geschmack erinnerte mich an meine Liebste und ich beschloss, zurück zu ihr zu kehren. Sie würde mich auch im Schlafrock empfangen. Denn ich war zu müßig, meine Sachen, die noch in der Dachstube im Wirtshaus waren, an mich zu nehmen. Und so ging ich im Schlafrock übers Feld und bog dann scharf nach links. Ich stieß auf lange Reihe Apfelbäume und aß auch hier ein paar der Früchte. Sie schmeckten köstlich. Aber ich wollte weiter. Also ließ ich ab von den Äpfeln und ging meines Weges.
Nun sah ich, am Horizont wurde es schon ein klein wenig hell und das Herz hüpfte mir recht fröhlich in der Brust. Ich ging wogenden Schrittes dahin, als ich an einer Mühle vorbeikam, deren Rad sich bereits munter durch das Wasser pflügte. Es klang ganz wie Musik in meinen Ohren. Der Müller schaute aus dem Fenster und winkte mir zu. Ich grüßte und wollte meinen Hut lüpfen, stellte aber fest, ich hatte ihn nicht auf dem Kopf. Der Müller fand meine Pose amüsant, lachte und rief mich an. Was ich denn schon zu so früher Stunde treiben würde? Und wie ich denn überhaupt ausschaue? Er konnte sich das Lachen nicht verkneifen und bat mich herein. Es duftete nach frischem Brot. Ich müsse unbedingt sein Brot probieren, meinte der Müller, es sei nach dem Rezept seines Großvaters gebacken, nach alter Tradition. Nur eine Zutat habe er abgeändert. Er wolle mir aber nicht verraten welche. Dies sei sein Geheimnis. Das Brot war noch ganz heiß und ich konnte zuerst nur ganz langsam essen, weil ich mir sonst die Zunge verbrannt hätte. Das Brot schmeckte köstlich und wärmte mich von innen. Ich lobte sein Backwerk über alle Maßen und versprach ihm, ich würde ihn bald wieder besuchen kommen, müsse jetzt aber gehen, da ich meine Liebste heute noch erfreuen wolle. Er nickte mir freundlich zu und gab mir noch einen knusprigen Laib Brot für meine Liebste mit. Ich verbeugte mich und war sehr erfreut, als ich vor die Mühle trat und von der Sonne empfangen wurde.
Auf einer Wiese sah ich eine Herde Kühe, die friedlich grasten. Flink sprang ich über den Zaun und näherte mich ihnen vorsichtig. Sie muhten nicht unfreundlich in den frühen Morgen und ich legte mich unter eine von ihnen und molk ihr pralles Euter mit beiden Händen, sodass mir die Milch in den Mund spritzte, manchmal aber auch ins Gras und auf meinen Schlafrock. Als ich mich genug gelabt hatte, erhob ich mich und wollte gerade meinen Weg fortsetzen, als [ …]
Ich klopfe an die Tür meines Kühlschranks. Nichts tut sich. Also klopfe ich erneut. Dieses Mal mit mehr Nachdruck. Die Tür fliegt auf. Eine Flasche Bier im grünen Morgenrock ist zu sehen, blafft: «Wer stört?»
«Äh, ich wollte gern etwas Milch, zum Kaffee. Für ein Bier ist es doch noch ein bisschen früh», füge ich mit verschmitztem Lächeln hinzu.
«Das geht nicht», raunzt die Flasche, «die Milch ist sauer!»
«Sauer?», wundere ich mich. Ich hatte die Milch doch erst gestern gekauft. «Vielleicht kann ich die Milch kurz sprechen?», werfe ich ein. Mir graut es vor schwarzem Kaffee. Milch und Zucker müssen schon sein.
«Nein», schreit die Flasche, «kannst du nicht!», knallt mir die Tür vor der Nase zu.
Unschlüssig verharre ich vor dem Kühlschrank. Ganz offensichtlich habe ich die Kontrolle über meinen Kühlschrank und dessen Inhalt verloren. Damit bin ich nicht ganz einverstanden. Das ist schließlich mein Kühlschrank. Ich habe ihn gekauft, bezahlt mit meinem sauer verdienten Geld. So funktioniert das im Kapitalismus nun mal. Langsam werde auch ich sauer und versuche die Kühlschranktür erneut zu öffnen. Abgeschlossen. Ich hämmere mit den Fäusten gegen das kalte Material. Endlich springt die Tür auf, die Flasche Bier streckt ihren Kopf raus und brüllt: «Was soll das! Bist du bescheuert?»
«Also, hör mal», versuche ich die Situation zu beschwichtigen, «so geht das nicht! Ich hätte jetzt doch gern etwas Milch zum Kaffee», und füge noch «bitte» hinzu.
«Schwer von Begrif, was?», wirft man mir an den Kopf, «die Milch ist sauer!»
«Ich auch!», protestiere ich.
«Dein Bier!«, höre ich noch, bevor die Tür wieder zufällt.
Das lasse ich mir nicht bieten! Ich muss die Herrschaft über meinen Kühlschrank zurückgewinnen. Wo kommen wir denn da hin, wenn ich mir von einer giftgrünen Flasche Gerstensaft mein Leben diktieren lasse! Ich trete mit dem Fuß gegen den Kühlschrank. Mehrmals. Mit voller Wucht. Endlich fliegt die Tür wieder auf. Das ewig alte Bild, die vermaledeite Flasche schreit: «Spinnst du?» Ein paar verfaulte Tomaten purzeln mir vor die Füße. Plötzlich habe ich einen genialen Einfall. Hier bringt rohe Gewalt nichts, Köpfchen ist gefragt. «Was macht ihr eigentlich die ganze Zeit da drin, so im Dunkeln? » Ich bin mir sicher, der Flasche mit meiner Frage den Dolchstoß versetzt zu haben. Höhnisches Lachen schlägt mir entgegen. «Wieso im Dunkeln? Glaubst du, wir leben hinterm Mond? Wir haben vierundzwanzig Stunden Licht!». Und zack, ist die Tür wieder zu. Ich schäume vor Wut. Jetzt endlich weiß ich, warum meine Stromrechnung eine solch astronomische Summe aufweist. Aber nicht mit mir. N-i-c-h-t m-i-t m-i-r ! Ich zerre den Kühlschrank von der Wand, rutsche auf den Tomaten aus und lande auf dem Hinterteil. Ich spüre, wie sich die Feuchtigkeit des ranzigen Gemüses den Weg durch den Stoff meiner neuen Hose bahnt. Doch das kann mich nicht aufhalten! Meine Wut ist grenzenlos! Ich packe den Kühlschrank mit beiden Händen, schleife ihn auf den Flur, öffne die Wohnungstür und unter Aufbietung meiner letzten Kräfte lasse ich den verhassten Gegenstand die Stiegen hinabstürzen. Die Schreie, die aus dem Kühlschrankinnern tönen, ignoriere ich. Erst als der Kühlschrank mit lautem Krachen unten aufschlägt, schließe ich zufrieden die Wohnungstür. Mein Werk ist getan. Zu was braucht man schon einen Kühlschrank? Früher ging’s auch ohne. Und für all das Geld, das ich jetzt einspare, gehe ich erstmal in den Urlaub; irgendwo hin, wo’s schön kalt ist.
Es gibt Momente, da entwickle ich beinahe so etwas wie Mitleid mit den Vertretern der menschlichen Rasse. Eine diffuse Vorstellung steigt dann in mir auf, warum sie miteinander kooperieren, kopulieren, Beziehungen jeglicher Art eingehen, sich Haus und Auto zuzulegen, morgens die Kinder in die Schule bringen und für eine Handvoll Dollar ihr Tagewerk verrichten. Ich ertaste ihre schalen Hoffnungen und Träume, all die Dramen, die sie ersinnen, um ihr stumpfes Anrennen gegen den Tod zu intensivieren. Ihre Angst vor dem Ende ist derart groß, dass sie ein riesiges Lügengebilde um den Tod errichtet haben, das sie stolz «mein Leben» nennen. Es ist ihre Legitimation, so zu tun, als würde der Tod gar nicht existieren. Und kommen sie dann irgendwann doch mit dem Tod in Berührung, sei’s, weil ein Familienangehöriger im Sterben liegt, oder sie wie durch Zufall bemerken, dass ihre Zeit auf Erden doch endlich ist, geraten sie in Panik und sterben paradoxerweise fast vor Angst.
Oft überfallen mich diese Eindrücke in den späten Abendstunden, wenn ich nach einer ausgiebigen Dusche und einer gründlichen Rasur das Badezimmer verlasse und an den schwarz lackierten Eichenholzschrank in meinem Schlafzimmer trete. Ich öffne die schweren Türen des Schrankes, nehme ein sauberes Hemd vom Bügel, greife eine der Hosen, die in vier verschiedenen Blautönen vorrätig sind, suche den Farbton aus, der meiner Augenfarbe heute am nächsten kommt und angle mir einen Gürtel. Sorgfältig kleide ich mich ein, kämme mein nasses Haar zurück und werfe einen prüfenden Blick in den Spiegel. Erst wenn ich vollauf zufrieden mit meinem Äußeren bin, hier und da noch eine kleine Korrektur vorgenommen, eine Falte meines Hemdes geglättet oder einen Fusel von meiner Hose entfernt habe, und die Spannung ins Unermessliche gestiegen ist, greife ich in das oberste Fach des Schrankes und hole ein in samtrotes Tuch geschlagenes Bündel hervor. Mein Puls beschleunigt sich. Behutsam schlage ich das Tuch zurück. Der Anblick, der sich mir bietet, überwältigt mich jedes Mal wieder aufs Neue. Sie wirkt so rein und jungfräulich, wie sie da liegt und ihren Glanz im fahlen Licht der Deckenlampe versprüht. Lucie ist eine Schönheit. Ich fühle ihr kaltes Metall, das ehrlich und gerecht ist, weder Ausflüchte noch Angst kennt, streiche zärtlich mit den Fingern über den schwarzen Griff aus Ebenholz und merke, wie Tränen der Rührung meinen Blick verschleiern. Ich rufe mich zur Räson. Sentimentalitäten überlasse ich den Menschen. Sie sind wie gemacht für die Verwirrung, die entsteht, wenn Gefühle den Verstand kontrollieren. Ich öffne die Trommel, lasse sie mehrere Runden drehen, genieße das surrende Geräusch, warte bis die Trommel von selbst anhält und lege eine Patrone ein. Den Lauf der Dinge zu verändern braucht es nicht mehr als eine einzige Patrone.
Heute Abend werden Lucie und ich gemeinsam ausgehen, einen kleinen Spaziergang nach Downtown unternehmen. Downtown hat einen schlechten Ruf, aber weitaus mehr romantische Ecken als gemeinhin bekannt: Unzählige verwinkelte Gässchen, verwaiste Spielplätze, von dunklem Buschwerk umsäumt, lange schnurgerade Straßen, spärlich beschienen von Laternen, deren Licht sanft auf den grauen Asphalt sinkt und in der Ferne blitzen majestätisch die dunklen Silhouetten der Wolkenkratzer auf. Schönheit ist immer und überall, aber der Mensch muss auch gewillt sein, sie zu sehen. Im Gegensatz zu den komplexen Farbstrukturen der Dunkelheit steht eine nicht unerheblich große Zahl hell erleuchteter Ladengeschäfte, deren Besitzer es sich zum Vorsatz gemacht haben, die Kundschaft rund um die Uhr zu bedienen. Einwanderer aus aller Herren Länder warten hinter schmuddeligen Ladentheken auf willige Käufer, die ein Päckchen Zigaretten oder eine Tiefkühlpizza aus der Kühltruhe mit nach Hause nehmen, kauern stoisch in verdreckten Plastikstühlen, stieren in quäkende Fernseher und telefonieren dramatisch gestikulierend mit Angehörigen in ihren Heimatländern. Einer von ihnen wird heute Besuch von uns bekommen.
Lucies Stimme zu hören ist ein Geschenk. Das kurze, satte Plopp, das ertönt, nachdem der Abzug betätigt wurde, allein das ist eine Geschichte wert. (Ihre volle Stimmgewalt halte ich mit einem maßgefertigten Schalldämpfer in Zaum.) Dies ist der Auftakt zu einem ergreifenden Schauspiel. Die Kugel verlässt den Lauf und bohrt sich in die weiche Stirn eines Menschen, just an der Stelle, an der das dritte Auge seinen Sitz hat. Ein Unheiliger geht mit ungläubigen, weit aufgerissenen Augen zu Boden, ohne den Hauch einer Chance, zu begreifen, was gerade vor sich geht. Dem Verstand fehlt die Zeit die Situation zu interpretieren und die entsprechenden Warnsignale an den Körper zu senden. Den größten Genuss aber birgt zweifelsohne die Stille, die einsetzt, nachdem die Kugel ihr Ziel erreicht und der Körper seine endgültige Ruheposition auf dem schmutzigen Fußboden eingenommen hat. Es ist der Moment, in dem die Seele den Körper verlässt und die Welt für einen Augenblick still steht. Ein Vakuum entsteht und das Tor zur anderen Seite dieser Welt öffnet sich. Die Seele, plötzlich aus der Zwangsjacke des menschlichen Körpers befreit, schwebt, unsichtbar für das menschliche Auge, über ihrem Wirt. Ein Moment der vollkommenen Gnade, den ich schon so oft erleben durfte. Ich spüre wie das Leben in meinen Adern pulsiert und ich fühle mich mindestens zehn Jahre jünger. Die Luft ist glasklar, ich kann den Flügelschlag einer Fliege auf große Entfernung wahrnehmen. Gierig sauge ich jede noch so kleine Nuance dieses Schauspiels ein, koste vom Nektar des Lebens, ehe die Zeit sich gleich wieder in Bewegung setzen wird. Ein feiner Schmerz durchdringt meinen Körper und holt mich in die Realität zurück. Ich hole tief Luft, muss mich regelrecht zwingen, meinen Körper in Gang zu setzen und den Ort des Geschehens zu verlassen. Es ist schon vorgekommen, dass ich mir einen kräftigen Hieb verpassen musste, ehe sich meine Beine in Bewegung setzten. Jetzt dringt die Zeit lärmend durch alle Poren, ungehobelt und arrogant und ich renne mit ihr um die Wette, passiere schiefe Gassen und krumme Straßenecken, springe über verwitterte Zäune, renne über rostige Gleise und halt erst inne, wenn meine Lungen zu bersten drohen. Oft bin ich überrascht, wie weit meine Beine mich vom Ort des Geschehens fortgetragen haben, oft eine Meile oder mehr. Ich bin mir sicher, ich könnte es in diesen Zeiten mit sämtlichen Hobby-Sprintern Amerikas aufnehmen.
Nie habe ich auf eine Frau geschossen oder einen Junkie mit einer Kugel bedacht. Frauen sind die Spezies auf unserem Planeten, die mit einem direktem Zugang zur Intuition ausgestattet ist. In ihre Art zu sterben mischt sich eine Frequenz, die mir nicht gefällt, ja, die mir geradezu unheimlich erscheint. Mit den Junkies ist es etwas ganz anderes. Ihre Körper sind mit toxischen Stoffen jeglicher Art belastet und sie verströmen einen säuerlichen Geruch, dass es mir den Magen umdreht. Es bereitet keinen Spaß, ihnen beim Sterben behilflich zu sein. Ohnehin verrotten sie bei lebendigem Leibe, und ganz bestimmt erweise ich ihnen nicht den Gefallen, und befreie sie von ihrem Leiden. Sie haben ihr Schicksal selbst gewählt und müssen mit den Dämonen, mit denen sie sich eingelassen haben, zurecht kommen. Und dieses verzweifelte Ringen um das bisschen karges Leben, das sie täglich zu ergattern versuchen, wiegt weitaus schwerer als der Tod.
Die Menschen, die der Tod völllig überraschend ereilt sind es, die dem Tod alle Ehre machen. Im künstlichen Licht der Neonröhren betrachtet geben sie eine derart gute Figur ab, wie sie es ihr ganzes Leben nicht im Stande waren und setzen ihrem sinnlosen Dasein am Ende doch noch die Krone auf. Oft passiert es, dass die Deckenleuchten kurz das Flackern anfangen, kaum wahrnehmbar für das bloße Auge, ob der Energie, die freigesetzt wird, wenn die Seele aus dem menschlichen Körper tritt. […]
Ich träume von einem Wesen mit langem weißem Bart, das riesige Flügel auf dem Rücken trägt und eine Flasche Bier in der Hand. Ich muss schmunzeln. Noch nie habe ich einen Engel Bier trinken sehen; nicht mal im Traum. Der Engel brabbelt irgendetwas, aber die Worte verheddern sich in seinem Bart. Das klingt lustig und ich lache laut auf. Der Engel erinnert mich an jemanden. Wären die Flügel auf dem Rücken nicht, könnte man glatt meinen … ja genau … Miraculix! Der Druide aus den Asterix Comics. Wirklich, eine frappierende Ähnlichkeit. Was für ein großartiger Traum! Ich öffne ein Auge. Vor meinem Bett steht ein Wesen mit langem weißem Bart und riesigen Flügeln auf dem Rücken. Jetzt öffne ich auch das andere Auge, blinzle ein paar Mal. Aber das Wesen verschwindet nicht in der Welt meiner Träume. Mit einem Schrei und einem gewaltigen Satz springe ich rücklings gegen die Wand, schlage mir den Hinterkopf blutig. Ich spüre, wie mir die klebrige Masse den Rücken hinunterläuft und mir wird klar, ich träume nicht. Ich habe Besuch. Ich schreie weiter. Vielleicht platzt dem Engel das Trommelfell. Der aber, gänzlich unbeeindruckt ob meines Gezeters, hebt bloß beschwichtigend die Hände. Jetzt erkenne ich das Etikett auf der Bierflasche: Pilsator. Meine Lieblingsmarke. Das beruhigt mich ein wenig und ich schreie auch gleich ein paar Dezibel leiser. Der Engel nimmt einen kräftigen Schluck und wirft die Bierflasche hinter sich. Sie zerschellt am Boden. Die Glasscherben schlittern bis in den Flur hinaus. Gemütlich zieht der komische Geselle ein neues Bier aus seinem Gewand. In einem entfernten Winkel meines überforderten Gehirns steigt kurz und leise der Gedanke auf, Pilsator gäbe es gerade beim Späti um die Ecke für 66 Cent. Das laute «plopp» das vernehmbar ist, als er die Flasche mit den Zähnen öffnet, verscheucht diesen Gedanken. Den Kronkorken spuckt er mir zielgenau zwischen die Augen. Augenblicklich bin ich still. «So, schenkst du mir nun deine geschätzte Aufmerksamkeit?», fragt mich der Eindringling. Ich muss mich anstrengen, ihn zu verstehen. Sein Bart ist im Wege und jetzt merke ich, dass er zudem ziemlich angesäuselt ist. Mit singender Stimme fährt er fort: «Du machst ja wirklich ein Drama. Nicht zu fassen!» Mein Verstand arbeitet auf Hochtouren, fragt sich, was zur Hölle hier vorgeht und scheitert kläglich beim Versuch, Kontrolle über die Situation zu gewinnen. Miraculix offenbar kann Gedanken lesen. «Junge, die Hölle lass bitte aus dem Spiel! Und nun komm mal wieder runter und setz dich auf dein wertes Hinterteil.» Er zieht eine weitere Flasche Pilsator aus seiner Tasche und streckt sie mir vor die Nase. Nicht ohne Stolz sagt er: «Gibt’s beim Späti, für 66 Cent. Da konnte ich einfach nicht widerstehen … » Reflexartig greife ich nach der Flasche. Aber ich war zu langsam. Der Engel zieht seine Hand blitzschnell zurück. «Besser, wir reden erst. Danach kannst du das Bier wirklich gut gebrauchen!» Völlig kraftlos fließe ich wie Flüssigseife auf die Bettkante, merke erst jetzt, dass ich völlig nackt bin, aber keine Unterhose weit und breit. «Also, pass auf, Junge! Wie du vielleicht schon erkannt hast, ich bin ein Engel.» Und wie zum Beweis schlägt er mit den Flügeln. Ein Windhauch streicht durchs Zimmer. «Vermutlich ist es das erste Mal, dass du einen Engel siehst? Hab ich recht?» Ich schaue ihm mit weit aufgerissenen Augen an, nicke ergeben. «Hör zu, Sohn! Ich habe dir eine wichtige Botschaft zu überbringen. Sitzt du bequem?» Mir schwant Böses. Wellen der Angst wandern durch meinen Körper. Der Engel fähr fort: «Von oberster Stelle hat man mich auserkoren, dir mitzuteilen, dass deine Zeit auf Erden abgelaufen ist.» Das bisschen Farbe, das sich mühevoll in meinem Gesicht gesammelt hat, entweicht schlagartig wieder, zusammen mit der Hoffnung, dass diese Geschichte ein gutes Ende nehmen könnte. «Ich … ich soll ster-sterben?», stammle ich, «jetzt?»
«Nein! Doch nicht jetzt!» Eine Tonne Steine fällt mir vom Herzen. «Morgen», sagt er trocken.
«Mooooorgen?« Ich fange wieder an zu schreien.
«Ja, mein Sohn, ganz recht, morgen. Deine Zeit auf Erden ist vorüber. Du hast dieses anstrengende Erdendasein überstanden. Erledige, was du noch zu erledigen hast.»
«Aber, aber … ich, ich bin doch gar nicht so weit», heule ich auf. Tränen stürzen mir über die Wangen.
«Ruhig, ganz ruhig, mein Guter!», spricht der Engel, «ganz so schlimm ist’s nun auch wieder nicht. Du kommst ja in den Himmel. Das ist nicht der schlechteste Platz auf Erden. Spielst du zufällig Harfe?»
Mein Kopf sackt auf meine Knie. Ich bin tot. Morgen! «Aber ich brauche Zeit! Ich brauche noch ganz viel Zeit! Ich habe noch so viel zu erledigen!», stoße ich hervor.
«Was denn, mein Sohn?»
«Nun … ich … ich … also …»
«Aha!», posaunt der Engel.
«Gib mir noch ein bisschen Zeit! Wenigstens ein Jahr!», flehe ich.
«Tut mir leid, mein Freund, ich kann leider nichts für dich tun.»
«Einen Monat!» schreie ich panisch, «Gib mir nur einen einzigen Monat! Ich bitte dich!»
«Lieber Himmel! Du hattest letztes Jahr zwölf Monate Zeit. Ganz zu schweigen von all den Jahren davor. Ich nehme an, du hast jede Sekunde voll ausgekostet?»
«Ausgekostet? Ich … ich hätte ganz anders gelebt, wenn ich gewusst hätte, dass ich … dass ich sterben muss!»
«Du dachtest doch nicht etwa, du lebst ewig …?»
«Das ist nicht fair! Ich hatte doch überhaupt keine Ahnung, dass ich morgen sterben soll!», heule ich.
«Nicht fair? Das nennst du nicht fair? Du hast das Leben mit Füßen getreten, es einfach an dir vorüberziehen lassen und die Zeit damit verbracht, dir Sorgen zu machen und Ängste anzuhäufen. Darin warst du wirklich gut! Es hat dir ja schon fast Spaß bereitet.»
Die Bierflasche taucht wieder vor meiner Nase auf. «Trink, Junge, das beruhigt die Nerven.»
Ich bin nicht fähig, die Bierflasche zu greifen.
«Hör mir zu, Junge! Ich muss jetzt los! Morgen 15 Uhr komme ich wieder und hol dich ab. Ich bring uns ein Stück Kuchen mit. Schwarzwälder Kirsch?»
Mein Kopf sinkt wieder auf die Knie. Ich höre Flügelschlagen. Wieder schwebt ein Lufthauch durch den Raum. Und dann höre ich nichts mehr. Totenstille. Lange Zeit sitze ich einfach da, kann mich weder rühren, noch einen klaren Gedanken fassen. Irgendwann greife ich wie im Trance das Telefon und drücke die Taste auf der «Julia» steht. Meine Freundin soll es als Erste erfahren.
«Hallo …? Wer ist da …?», höre ich eine schlaftrunkene Frauenstimme.
«Julia …», stoße ich hervor. Der Rest ist nur noch Schluchzen.
«Was ist los?» Julias Stimme ist plötzlich schrill und panisch. Ich kann förmlich spüren, wie ihr kalte Schauer über den Rücken jagen.
«Julia …», hebe ich erneut an, «ich … ich bin …»
«Ähem!», räuspert sich jemand hinter mir. «Ich nochmal!»
Der Hörer fällt auf den Boden. Blechern tönt er meinen Namen Vorsichtig schiele ich über meine Schulter. Da steht er, in seiner vollen Größe, Miarculix.
«Mein Junge», sagt er sanft, «du wohnst doch in der 38 oder?»
Ich nicke wie ferngesteuert.
«Das ist mir jetzt echt peinlich. Ich hab doch glatt die Hausnummer verwechselt. Eigentlich wollte ich zur 83.»
«83?» echoe ich tonlos.
«Ja, Hausnummer 83. Ich habe das falsche Haus erwischt»
«Das falsche Haus? Heißt das …»
«Ja, mein Sohn, das heißt es! Nicht du bist es, der mich morgen in den Himmel begleiten wird. Dein Gastspiel auf Erden ist noch nicht beendet!»
Ich springe auf, schreie wie ein Wahnsinniger, umarme den Engel und tanze mit ihm durchs Zimmer.
Wir sitzen noch bis in den frühen Morgen und trinken, trinken unzählige Pilsator; zusammen mit Julia, die innerhalb weniger Minuten völlig aufgelöst bei mir in der Wohnung stand. Mit Saltos in der Stimme berichtete ich Julia, was in der letzten halben Stunde passiert ist. Ich stelle ihr Miraculix vor, der, wie ich inzwischen weiß, Theoloidis heißt und liebend gerne Asterix Comics liest. Theoloidis gibt uns noch ein paar Geschichten aus dem Himmel zum Besten, ehe er im Morgengrauen sturzbesoffen aufbricht. Wir winken ihm noch lange nach. Ich nehme Julia bei der Hand. Ich kann mich jetzt nicht schlafen legen. Ich muss die ganze Welt umarmen. Draußen wartet das Leben – mein Leben!
«Viktor, Sie haben mir nicht gehorcht!», Claras Stimme zittert und ihre Hände zupfen nervös an den Falten ihres Rocks. Sie kauert auf dem samtroten Diwan, nicht gewillt, sich von ihrem Platz zu erheben, dem Marquise Veremont den Anstand und die Ehre eines Willkommensgrußes zu erweisen. Dieser verharrt dann auch inmitten des Salons, und die Verunsicherung, wie weit er sich der Comtesse nähern dürfe, ist deutlich spürbar.
«Sie suchen eine verheiratete Frau in ihrem Hause auf», fährt die Comtesse fort, «wo Sie doch über genaue Kenntnis verfügen, dass deren Gemahl sich in geschäftlichen Angelegenheiten auf Reisen befindet?»
«Comtesse, verzeihen Sie mir diese Unartigkeit …»
«Viktor, was denken Sie sich dabei?»
«Comtesse, ich konnte nicht länger warten …», hebt der Marquise an und eine Woge des Mutes erfasst ihn, die ihn ein paar ungestüme Schritte in Claras Richtung machen lässt. Die reißt sichtlich erschrocken die Hände in die Höhe, sodass der Marquise seinem Vorstoß einstellt und aus gebührender Entfernung spricht: «Ich konnte nicht länger gegen die Sehnsucht ankämpfen, Sie zu sehen, Ihre Stimme zu hören und den Duft Ihres Parfums einzuatmen. Lange habe ich versucht, dem Drängen Einhalt zu gebieten, alle möglichen Ablenkungsmanöver ins Feld geführt, bis ich drohte, dem Wahnsinn zu verfallen. Ich bin nicht mehr Herr meiner Selbst, mir fehlt die Stärke, weiter gegen mein Verlangen anzukämpfen. Es ist ein sinnloses Unterfangen. Nur der Tod kann mich von diesem Leiden erlösen!»
«Viktor! Wir hatten doch eine Abmachung …» Claras Stimme ist kaum vernehmbar und ihre Augen glänzen feucht vom Schein der Tränen, die aufsteigen, denen aber untersagt ist, die blassen Wangen zu benetzen.
«Clara, hören Sie mich an!» Der Marquise fällt auf die Knie, schlägt die Hände vor die Brust und rutscht in dieser Haltung ein paar Inch näher an die Angebetete. «Ich bin unschuldig! Es ist mein Herz, mein Herz, ich erkenne es nicht wieder! Es ist von einer fremden Macht ergriffen, beherrscht von einem Zauberbann, der es erhöht und zur gleichen Zeit mit eiserner Faust umschließt. Es ist wie ein böser Fluch und es bedarf Ihrer Liebe, es zu befreien. Verweigern Sie ihm dieses Labsal, so wird es aufhören zu schlagen und ich werde in den sicheren Tod gehen. Aber was ist schon der Tod? Ist er mir nicht Erleichterung? Warum also sollte ich ihn scheuen? Wird er mich nicht von diesen unsäglichen Qualen befreien?
«Viktor …» Claras Stimme, ein kaum vernehmbares Wispern.
«Clara, heilen Sie mein Herz, schenken Sie ihm Ihre Liebe und befreien Sie mich! Geben Sie mir mein Leben zurück – ich flehe sie an! Die Wahrheit ist, mein Herz verzehrt sich nach Ihnen! Ich liebe Sie mit jeder Faser meines Köpers bis in den Tod!»
Die letzten Worte hat der Marquise mit gewaltiger Inbrunst hervorgestossen und sackt nach dieser Vorstellung wie ein Blasebalg, aus dem die Luft herausgepresst wurde, in sich zusammen. Im Salon herrscht eine gespannte Stille, die man fast mit den Händen zu greifen vermag. Clara blickt auf den Boden, zu den Spitzen ihrer Schuhe, als würde dort eine passende Entgegnung auf den feurigen Vortrag des liebestollen Marquise ruhen. Nach einiger Zeit, in der man kein Geräusch wahrnimmt, abgesehen von einer Amsel, die im Garten ihr Lied singt, hebt Clara vorsichtig an: «Viktor, wie Sie nur zu gut wissen, bin ich eine verheiratete Frau und habe vor Gott ein Ehegelübde gegeben, in dem ich versprach, meinem Gatten die Treue zu halten. Dieses Versprechen, als auch Staat und Gesellschaft, verlangen von mir ein tugendhaftes Verhalten und zwingen mich, dem, dem ich mein Verspechen gab, die Treue zu halten. So füge ich mich in mein Schicksal, gehorche meinem Mann, bin seine Dienerin. Dieses Los habe ich gewählt. Hätte ich vorher gewusst, in was für einem Kerker ich mich begebe, wäre ich lieber ins Wasser gegangen, denn den heiligen Bund der Ehe einzugehen. Diese Entscheidung aber wurde unwiederbringlich getroffen und kann nicht wieder rückgängig gemacht werden. Mein Schicksal ist besiegelt und soll nicht noch zusätzliche Beschwernis erfahren, dass ich zu einer gefallenen Frau werde, man mit dem Finger auf mich zeigt und mich eine Dirne schimpft. So opfere ich mich meinem Ehegatten, halte ihm die Treue und erfülle meinen vor Gott geleisteten Schwur, bis dass der Tod uns scheidet.»
«Ihr Verhalten ehrt Sie, Clara, und es verlangt meinen tiefsten Respekt! Meiner Liebe tut dies keinen Abbruch, nein, es steigert sie gar in absurdem Maße. Dieser noble Zug, diese Bindung bis in den Tod macht Sie umso liebenswerter! Sie besitzen die Charaktereigenschaften, die man heutzutage verzweifelt sucht. Wie könnte ich also aufhören, eine Frau wie Sie zu begehren? Es ist unmöglich! Ich flehe Sie deshalb neuerlich an, erhören Sie mich! Wir könnten flüchten, Clara, sofort! In drei Stunden sind wir in Montagne und von dort in zwei Tagesreisen in Italien. Und ist das nicht genug, können wir das Meer überqueren, in einem fernen Land ein Fleckchen Erde suchen, uns niederlassen, wo keine Menschenseele unserer Vergangenheit gegenüber Interesse bekundet, dort ein glückliches Leben führen!»
Claras Körper durchläuft ein Schauer. Sie zögert einen Moment, wägt in Gedanken die Möglichkeit ab, ihrem alten Leben, ihrem Mann und den gesellschaftlichen Zwängen zu entfliehen und den Schritt in ein neues Leben zu wagen. Claras Pupillen verengen sich und mit Trotz in ihrer Stimme entgegnet sie: «Ich habe meinen Entschluss gefasst! Mein Platz ist hier, an der Seite meines Gatten! Wenn Sie mich wirklich lieben, wie Sie es gerade so gehaltvoll von sich gegeben haben, dann verlassen Sie mein Haus. Gehen Sie, Viktor, meinethalben! Es ist mein dringlicher Wunsch.»
Nun ist es, als entweiche das letzte Stückchen Leben aus den Gliedern des Marquise. Gott weiß, wie er die Kraft findet, die schwere Pistole in seiner Hand zu halten. Unter sichtlichen Mühen kommt der Marquise auf die Beine, schwankt und richtet den Lauf der Pistole auf Clara, die nicht weiß, wie ihr geschieht. Dann besinnt sich der Marquise eines Besseren und richtet die Waffe gegen sich selbst. «Wenn das Ihr letztes Wort ist, Clara, dann habe ich mit dem Leben abgeschlossen! Ihre Liebe ist der Schlüssel zum meinem Herzen. Sie vermag mich zu heilen! Ohne ihre Liebe ist mein Leben ohne Wert. Ich werde nicht warten, bis die Sehnsucht mein Herz zerfrisst. Ein schnelles Ende soll es sein! Leben Sie wohl, Clara!»
Noch die Comtesse zu einer Erwiderung fähig ist, löst sich krachend ein Schuss aus der Pistole, der Marquise verdreht die Augen und schlägt der Länge nach rücklings auf den Boden. Die Comtesse schnellt mit unheimlicher Kraft, wie man sie nur in den Momenten allerhöchster Not kennt, von ihrem Diwan und muss mit ansehen, wie eine Blutlache von reinstem Rot unter dem Kopf des Marquise hervortritt und sich rasch über den Parkett ausbreitet. Sie fällt neben dem Verunglückten auf die Knie, greift seine noch warme Hand, stößt herbe Schluchzer aus und lässt ihr Haupt auf die Brust des Marquise sinken. Im Handumdrehen ist dessen Hemd von Bächen von bitterer Tränen durchweicht. «Liebster … warum?», entfährt es Clara. Ihr Schluchzen scheint ihr beinahe die Brust zu sprengen. Als nach einiger Zeit der Strom der Tränen abebbt und sie mit ihrem Haupt ermattet auf dem Marquise ruht, es können eine Viertelstunde oder auch nur ein paar wenige Minuten vergangen sein, Clara hat jegliches Zeitgefühl verloren, dringt wie aus weiter Ferne ein Geräusch an ihr Ohr. Ein Geräusch, das sich wie das Schlagen eines Herzens anhört Ja, in der Tat, Clara, in ihrem Wahne meint, das rhythmische Pochen eines Herzens zu hören. Ihr Verstand spielt ihr einen bösen Streich. Der Marquise ist tot! Es ist aus! Aber nein, jetzt hört sie es ganz deutlich, in der Brust des Marquise schlägt ein Herz, sein Herz! Er lebt! Ein Wunder! «Liebster, kannst du mich hören?» flüstert sie völlig außer sich. Der Marquise öffnet die Augen und Clara verdreht die ihren, als ihr das Bewusstsein schwindet.
Wir können es Clara nicht verübeln. Wie sind diese Geschehnisse zu erklären? Haben wir es tatsächlich mit einem Wunder zu tun? Mitnichten! Der Marquise ist in der Tat lebendig und erfreut sich bester Gesundheit! Man kann ihn einen Schuft nennen, einen raffinierten Gauner, hat er doch tatsächlich die Rolle des verschmähten Liebhabers, der freiwillig in den den Tod geht, mit nicht wenig schauspielerischem Talent und mit Hilfe einer „toten“ Ladung Pulvers dargeboten. Wenn alles nur Schauspiel war, woher aber stammt dann das viele Blut, das aus seinem Kopfe austrat und inzwischen einen See von beachtlicher Größe bildet? Auch hierfür gibt es eine ganz einfache Erklärung. Der Marquise, der schlaue Fuchs, schickte am frühen Morgen seinen Diener zu einem naheliegenden Gehöft, mit dem Auftrag, eine Schweineblase gefüllt mit dem Blut eines frisch geschlachteten Jungschweines herbeizuschaffen. Diese hatte er fachmännisch in seinem Nacken drapiert, so dass sie von vorne nicht zu sehen war, aber bersten musste, als er mit der Fülle seinen Körpergewichts auf den harten Boden schlug. Nun müssen wir aber noch die Frage klären, warum der Marquise sich all diesen Mühen unterzog, welchem Zweck das ganze Schauspiel diente, welcher Absicht es unterlag? Nun, wenn es um die Liebe geht, dann verschwimmen die Grenzen von Recht und Unrecht. Der Marquise war sich sicher, dass die Comtesse ihm liebevoll zugewandt sei, aber nicht gewillt war, ihm sein Herz zu öffnen und gegen die bestehenden Konventionen zu verstoßen (wie sie es ja auch selbst aussprach). Und so bediente sich der Marquise dieser List, um Clara, als sie den Marquise für tot hielt, zu einem gewissen Verhalten und Aussagen aus eigenem Munde zu verleiten, die ihre Liebe zu ihm zu offenbaren vermochten.
Und so hebt der Marquise hebt die bewusstlose Clara vom Boden uns bringt sie zu seiner Kutsche, die startbereit vor der Türe steht, erteilt dem Kutscher den Befehl, so schnell wie möglich das herrschaftliche Anwesens zu verlassen. Gewiss, die Kutsche wird gen Montagne rollen und von dort nach Italien. Clara, die nun unfreiwillig ihre Liebe gestanden hat, wird sich ihrer Entführung nicht im größerem Maße zu widersetzen vermögen und sich ihrem neuen Schicksal, wenn auch unter Protest, zu fügen wissen. Vorerst aber weilt sie noch immer ohne Bewusstsein in den dunklen Labyrinthen ihres Geistes.
Wir können nicht mit Bestimmtheit sagen, ob die beiden ein glückliches Paar abgeben. Clara neigt im Allgemeinen schon von Kindesbeinen an zu Grübeleien und Schwermut. Die neue Liebschaft und der Umzug in wärmere geographische Gefilde (sie war nie eine ausgesprochene Freundin von winterlichen Temperaturen), vermögen sie vielleicht ein wenig zu erheitern; die Liebe des Marquise, die zweifelsohne echt ist, wird ihr Übriges tun. Ihren Gatten wird sie nicht vermissen, dessen können wir uns versichert sein. Und hat sie ersteinmal die veränderte Situation zu akzeptieren gelernt, wird sie vielleicht feststellen – alles Neue übt einen Reiz auf den Menschen aus -, dass sie eine gewisse Zeit von Melancholie und Trübsinn verschont sein wird. Wünschen wir Clara ein behutsames Erwachen und ihr und dem gewieften Marquise, der mutig das Glück herausforderte, alles Gute und viel Gesundheit im neuen Leben.
Die glänzende Darbietung des Marquise hat übrigens Schule gemacht und es sind zwei weitere Fälle des gleichen Jahres bekannt, in denen sich verschmähte Liebhaber dieser List bedienten. Ob sie allerdings ihre Erfüllung dadurch gefunden haben, darf starken Zweifeln unterzogen werden.
«Wir können dieses Kind nicht behalten», sagt sie leise, so leise, dass ich sie kaum verstehen kann. Vorsichtig drapiert sie das Bündel, aus dem ein Gesicht und zwei Händchen ragen, auf meinen Schreibtisch. Mit betretenen Mienen stehen die Eheleute Henriette und Thomas Miller im Büro des Leiters des St. Agnes Waisenhauses, erwecken ganz den Anschein, als hätten sie mehrere Nächte nicht geschlafen.
«Bitte setzen Sie sich doch und erzählen in Ruhe, was Sie auf dem Herzen haben», fordere ich die beiden auf, obschon ich mir ziemlich sicher bin, dass ich weiß, was ich zu hören kriege.
«Mr. Rosenstein» beginnt Mrs. Miller, nachdem sie mehrmals tief Luft geholt hat, «das Kind … also, dieser Junge … Pulpo … er … er macht … er macht uns Angst.»
«Pulpo macht Ihnen Angst?», frage ich stirnrunzelnd, «ein Baby von sechs Monaten macht Ihnen Angst? Wie darf ich das verstehen, Mrs. Miller?»
«Nun, der Junge … er … ist so unheimlich … unheimlich still.»
«Ach! Er brüllt sich nicht die Lungen aus dem Leib?»
«Nein … im Gegenteil – er gibt keinen Mucks von sich!»
«Ich nehme an, Sie füttern ihn regelmäßig und wechseln ihm immer schön die Windeln?»
«Selbstverständlich!»
«Na, dann ist doch alles in bester Ordnung! Warum soll er weinen, schreien, sich beklagen? Bei solch tollen Eltern wie Ihnen hält er sein Organ eben im Zaum – mich wundert das weiter nicht!»
«Aber … aber, hören Sie, Mr. Rosenstein! In den zwei Wochen, in denen er bei uns lebt, hat er nicht ein Mal geschrien, nie geweint, nein, gar keinen Ton von sich gegeben!», Die Bestürzung steht der guten Frau ins Gesicht geschrieben. «Mit ihm ist doch alles in Ordnung? Er ist doch nicht etwa stumm?».
«Nein, keinesfalls! Wie ich Ihnen bereits versichert habe, Pulpo ist kerngesund! Aber bitte bedenken Sie, der Junge hat den Großteil seines noch so jungen Lebens im Waisenhaus verbracht, musste sich, kaum geboren, mit der Tatsache abfinden, ohne leibliche Mutter auszukommen. Kein leichtes Schicksal. Aber Ihnen muss ich das bestimmt nicht sagen, Sie verstehen, wovon ich rede! Das Waisenhaus ist nun mal kein geeigneter Platz für einen Säugling!»
«Natürlich verstehen wir das. Aber … aber Sie glauben nicht, wie oft wir nachts aus dem Schlaf geschreckt sind, weil es so furchtbar still im Hause war und voller Panik an sein Bettchen stürzten! Da lag er, lag einfach da, mit offenen Augen und starrte ins Nichts. Ja, Gott sei Dank, er war am Leben! Wir aber dachten… wir dachten wirklich, er sei tot. Diese Totenstille! Nicht zum aushalten! Können Sie sich vorstellen, was wir durchmachen mussten? Und das jede Nacht aufs Neue!»
Mrs. Miller rinnen Bäche von Tränen über die Wangen. Ich reiche ihr ein Taschentuch und streichle sie mit meiner sanftesten Stimme: «Lassen Sie mich Ihnen etwas erklären, Mrs. Miller. Wir haben hier lediglich zwei Krankenschwestern, die sich um bis zu dreißig Babys kümmern. Da passiert es, dass nicht gleich jedem Baby die Tränen getrocknet werden können, sobald es das Weinen und Schreien beginnt; und die Kleinen gewöhnen sich daran, unbeachtet in ihrem Bettchen zu liegen. Es vollzieht sich also eine natürliche Abhärtung. Unsere beiden Schwestern Angelique und Carole lieben die Waisenkinder, als wären es ihre eigenen, das können Sie mir glauben! Aber, Himmel nochmal, dreißig Babys! Und nur zwei Schwestern! Das ist ein Unding! Der Staat müsste uns einfach mehr Pflegepersonal zur Verfügung stellen! Aber Sie wissen ja, wie das ist: für die wirklich wichtigen Dinge im Leben ist nie Geld da!»
In der Tat ist das aber nur die halbe Wahrheit. Pulpo ist im St. Agnes Waisenhaus hinlänglich dafür bekannt, dass er seine Emotionen außerordentlich gut zurückzuhalten weiß. So gut, dass er bei uns den Spitznamen «Iron» bekam. Genaugenommen hat Pulpo nur zweimal in seinem Leben geschrien, und selbst da ging er recht sparsam mit seinem Organ um; das erste Mal, nachdem die Nabelschnur durchtrennt war und Carol ihm den rituellen Klaps auf sein kleines Hinterteil gab (sie musste dieses Ritual mehrfach wiederholen, dem Kleinen fast seine erste Tracht Prügel verpassen, um den ersten Ton aus seiner Kehle zu entlocken) und das zweite Mal, als ich die routinemäßige Beschneidung bei ihm vornahm, um seinem winzigen Penis die besten Entwicklungsmöglichkeiten zu gewähren und ihn vor Infekten und Keimen zu schützen.
«Mr. Rosenstein, das ist ja alles schön und gut», mischt Mr. Miller sich ein, der bisher noch kein Wort verloren hat, «aber Sie sehen, wie meine Frau diese Situation zu schaffen macht! Es tut uns leid, aber wir sind einfach nicht in der Lage, einen Säugling seiner Art großzuziehen!»
«Ich sehe», versuche ich zu retten, was nicht mehr zu retten ist, «das Ganze braucht ein bisschen Zeit, ein wenig Geduld und eine tüchtige Portion Liebe. Das hat noch immer geholfen! Ich bin überzeugt, Pulpo wird sich prächtig entwickeln und seinen Eltern viel Freude bereiten! Er ist ein wunderbarer Junge!»
«Ich habe unseren Standpunkt bereits dargelegt», fährt Mr. Miller mit verkniffenem Mund fort, reicht seiner schluchzenden Frau ein frisches Taschentuch, «wir sind nicht die Richtigen für diesen Job!»
«Wenn das so ist, darf ich Ihnen den Vorschlag unterbreiten, es mit einem anderen Baby zu versuchen?» Ich kann so leicht nicht aufgeben, greife nach dem letzten Strohhalm, einem unserer kleinen Zöglinge ein neues Zuhause zu finden, ein Nest voller Wärme und Behaglichkeit. «Wir hätten da beispielsweise Micos. Er besitzt ein intaktes Paar Lungen, die er auch gebührend zum Einsatz bringt!»
Mrs. Millers Schluchzen nimmt an Lautstärke und Intensität zu. Ihr Ehemann schüttelt energisch den Kopf. «Danke, Mr. Rosenstein, es reicht! Wir müssen uns von diesem Schock erst einmal erholen!»
Die beiden erheben sich. Mrs. Miller hat inzwischen ihr komplettes Make-up ruiniert.
«Gut, gut», sage ich, weil ich einsehe, dass es absolut keinen Sinn macht, weiter den Finger in die Wunde zu legen. «Falls Sie Ihre Meinung doch noch ändern, wissen Sie, wo Sie mich finden.»
Die beiden verabschieden sich. Mr. Miller murmelt noch irgendetwas, dass ich nicht verstehe und schiebt seine Frau zur Tür. Das Bündel bleibt auf meinem Schreibtisch zurück. Ein Jammer! Auch die beiden Elternpaare zuvor, denen ich Pulpo anvertraute, hatten sich von seiner schweigsamen Art düpieren lassen und brachten ihn nach kurzer Zeit wieder ins Waisenhaus zurück. Der Junge ist wie ein Bumerang. Ich beuge mich über ihn. Da liegt er, Mr. Iron, der große Schweiger, der unbewegte Stoiker, regungslos, teilnahmslos, als ginge ihn das Ganze überhaupt nichts an. Mit seinen großen, ruhigen Augen starrt er Löcher in die Zimmerdecke. Vielleicht sieht er sein Schicksal vor sich, dort oben. Hoffentlich hat er eins. Ich drücke die Taste meiner Sprechanlage, «Schwester Angelique, bitte kommen Sie in mein Büro.»
Kaum habe ich die Taste des Gerätes losgelassen, betritt die Gerufene mit wehendem Haar und fliehender Kittelschürze das Zimmer. Kaum hat sie das Bündel auf meinem Schreibtisch erreicht, ertönt ein langgezogener Schrei und dann fröhliches Glucksen. Ich rufe erschrocken: «Gütiger Himmel, Schwester Angelique, was geht hier vor? Pulpo liebt Sie! Er liebt sie von ganzem Herzen – kein Zweifel!»
Nie habe ich einen Menschen derart strahlen sehen, wie in diesem Augenblick Schwester Angelique.
«Guten Tag! Heute möchte ich es mir so richtig gut gehen lassen! Was können Sie mir empfehlen?»
«Eine Freude, Sie zu sehen, Sir! Wir werden genau das Richitge für Sie finden! Wie wäre es mit ein paar frisch aufgezogenen Krampfadern?
«Nein danke! Für den heutigen Tag sind die mir zu gewöhnlich. Zudem hatte ich die letzte Woche schon. Zugegeben, sie waren köstlich!»
«Wie wäre es dann mit einem daumendicken Furunkel? Die gehen heute sehr gut.»
«Das klingt schon besser! Hätten Sie vielleicht auch einen Abszess für mich?»
«Aber selbstverständlich! Die haben wir in alle gängigen Größen vorrätig, auch tennisballgroß.»
«Und mit einem Krebsgeschwür, können Sie mir auch damit dienen?»
«Zweifelsohne, Sir! Da hätten wir einmal die gemeine Leukämie, und wenn es etwas extravaganter sein darf, dann auch gerne den Bauspeicheldrüsenkrebs. Ebenso vorrätig wären Schilddrüsenkrebs, Darmkrebs, Gallenkrebs, und – auch immer wieder sehr gerne genommen – der gute, alte Lungenkrebs.»
«Mmmh, da läuft mir das Wasser im Mund zusammen! Für den Lungenkrebs könnte ich mich durchaus erwärmen …»
«Erstklassige Wahl, Sir! Hätten Sie ihn gerne beidseitig?»
«Nein, ich glaube der linke Lungenflügel ist völlig ausreichend!»
«Vortrefflich, Sir! Sie sind ein kleiner Gourmet!»
«Danke! Eiterbeulen haben Sie doch bestimmt ebenfalls da, oder?«
«Aber sicher, Sir! Heute in bestechender Qualität!»
«Gerne ein halbes Pfund davon! Und zur Feier des Tages gönne ich mir heute zudem einen Darmverschluss. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich den das letzte Mal hatte …»
«Hervorragend! Dürfen es obendrein vielleicht noch ein paar vorgewärmte Hämorriden sein?»
«Gute Idee! Eine Handvoll würde ich mitnehmen. Und vielleicht noch fünf Gramm Zahnstein.»
«Sehr gerne, Sir! Das wäre dann alles?»
«Ja, danke, das reicht für ein Festmahl!»
«Ohne Zweifel, Sir! Darf ich die Sachen einpacken?»
«Bitte ja. Außer die Hämorriden, von denen können Sie mir gleich ein paar auf die Hand geben.»
«Sehr gerne, Sir! Zahlen Sie bar oder mit Krankenkarte?»
«Bitte mit Krankenkarte.»
«Sehr gut! So, da hätten wir Ihre Leckereien. Ich habe Ihnen noch etwas frischen Fußpilz dazugepackt.»
«Reizend! Besten Dank!»
«Sie sind uns herzlich willkommen! Bitte beehren Sie uns bald wieder! Ich wünsche Ihnen die Pest an den Hals, Sir!»
«Danke! Mögen Ihnen die Zähne verfaulen und die Hoden abfallen!»
«Vielen Dank, Sir! Wir hoffen das Beste! Bis bald!»
«Nein, nicht schon wieder! Muss es denn immer gleich böse enden? Ein paar gebrochene Finger, ein ausgerenkter Arm oder eine übel zugerichtete Visage tun es doch auch!»
«Ach, komm schon, Charly, so ein kleiner Auftragsmord tut doch nicht weh.»
«Das ist nun schon der zweite innerhalb von sieben Tagen!»
«Na, das Geschäft floriert eben.»
«Mann, ich bin echt nicht in Stimmung, schon wieder jemandem das Licht auszupusten!«
«Warum stellst du dich so an, Charly? Woher kommen deine ständigen Befindlichkeiten?»
«Im Gegensatz zu dir habe ich ein Herz, Winston!»
«Willst du damit sagen, ich besäße kein Herz? Ich habe sogar ein sehr großes Herz! Und das weißt du auch sehr genau, Charly!»
«Dass ich nicht lache! Du weiß ja nicht mal, auf welcher Seite das Ding eigentlich sitzt!»
«Hey, ich hab meiner Frau erst gestern Blumen geschenkt!»
«Was hattest du dieses Mal ausgefressen, Winston?»
«Komm schon! Einfach so … aus Liebe.»
«Ich glaub dir kein Wort!»
«Ich schwöre es Dir! Ich bin eben ein Mensch mit einem großen Herzen, Charly! Weißt du noch, als wir Joey Delany um die Ecke gebracht haben, an diesem heißen Tag im Juli, wie mir da die Tränen der Rührung in den Augen standen?»
«Das waren keine Tränen der Rührung, Winston, das war der bestialische Gestank in dieser verdammten Bruchbude, der dir die Tränen in die Augen trieb!»
«Und kannst du dich noch erinnern, wie ich ihm wohlwollend zuhörte, wie er um sein Leben flehte, heulte und wimmerte und mein teures Hemd vollsabberte? Wie ich mir diese erbärmliche Vorstellung volle zwei Minuten angetan habe? Kannst du dich daran noch erinnern, Charly?»
«Mann, du hast dich doch nur an seiner Angst aufgegeilt!»
»Ich habe ihm sogar Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod gemacht, Charly! Das kannst du doch nicht vergessen haben?»
«Du hast ihm vorgegaukelt, dass du ihn am Leben lässt! Bevor du ihm dann nach geschlagenen zwei Minuten ohne mit der Wimper zu zucken eine Kugel durch seinen Kopf gejagt hast!»
«Aber, Charly, was kann ich denn dafür, wenn er schwer von Begriff ist!»
«Ich hab keine Lust, mich mit dir zu streiten, Winston.»
«Weil du weißt, dass ich Recht habe! Da ist nämlich diese feine, zarte Stimme in deinem Kopf, die flüstert: Winston ist ein guter Mensch. Winston hat ein großes Herz, ein riesengroßes Herz sogar. Und Winston liebt seine Frau über alles!»
«Ich geb’s auf …»
«Du siehst also ein, dass du mir Unrecht tust …?»
«Winston, Himmel noch mal …!»
«Reg dich bitte nicht auf, Charly! Du weißt schon, dein Blutdruck …»
«Ich muss an die frische Luft!»
«Aber bitte sei pünktlich zurück, wenn es wieder heißt: Wen ich heute kann ermorden, der ist schneller an den Himmelspforten.»
«Idiot!»
»Ja, ich liebe dich auch von ganzem Herzen, Charly!»
Hier sitze ich, dies also ist die letzte Station meines Lebens. Hier werde ich zugrunde gehen. Unter Gleichgesinnten, die wie ich die noch verbleibende Zeit absitzen und mit wirrem Geist und schlaffen Segeln dem Tod entgegen treiben. Mein ganzes Leben hatte ich Angst, an einem Ort wie diesem zu landen. Das Alter mag keine Schande sein, aber der Einzige, der am Ende noch lacht, ist Gevatter Tod.
«Nun, Herr Brunswick, wie geht es uns heute?»
Sie stellt jeden Tag die gleiche Frage, das Frühstück auf den Tisch, ein junges Ding namens Mathilda, rote Locken, Sommersprossen, untersetzt und stets energisch. Sie serviert einem ganzen Stockwerk alter, sabbernder Menschen das Frühstück.
«Heute haben wir was gaaaaanz Leckeres, Rührei mit Speck und Vollkorntoast», verkündet sie, als würde es sich um eine kulinarische Sensation handeln.
Es ist Sonntag. Sonntag gibt es immer Rührei mit Speck und Vollkorntoast. Ich mag kein Rührei und Sonntage sind mir seit je her verhasst. Schon als kleiner Steppke konnte ich ihnen nichts abgewinnen. Damals, nie endend wollende Spaziergänge mit meinen Eltern, die unglaublich gern durch die Botanik stapften. Schon bevor wir ins Auto stiegen, um ein besonders schönes Fleckchen Erde, wie sie es nannten, aufzusuchen, fühlte ich mich total zerschlagen. Mein Vater parkte unser großes Auto auf einem staubigen Parkplatz und dann marschierten wir los, passierten gähnend langweilige Landstriche, öde Wälder, farblose Wiesen, bergauf, bergab, bis wir nach einer halben Ewigkeit Halt machten, Eine heruntergekommenen Vereinsgaststätte oder eine ungepflegte Gartenwirtschaft brachte Linderung. Meine Mutter trank Kaffee, dazu ein Stück Schwarzwälder, mein Vater hielt sich an seinem Bierglas, schmauchte seine Pfeife. Ich war froh, endlich ausruhen zu dürfen, schlürfte meine Limo, meine Beine schmerzten. Doch mir war keine lange Pause vergönnt. Schon bald ging es den ganzen weiten Weg zurück. Natürlich nicht genau den selben Weg, den wir gekommen waren, dann hätte ich wenigstens ungefähr abzuschätzen gewusst, wie weit meine müden Beine mich noch tragen müssten, nein, eine Strecke, die mir weitaus länger vorkam. Mehrmals überlegte ich, mich einfach auf eine moosbewachsene Lichtung zu legen und mich meinem Schicksal zu ergeben. Ohnehin war ich mir sicher, mein Verlust würde unbemerkt bleiben.
Keinen Deut besser waren die sonntäglichen Besuche bei Verwandten. Fade Tischgesellschaften, ermüdende Gespräche, hohläugige Blicke, es hagelte Ermahnungen, sitz still, zappel nicht so, iss deinen Kuchen auf, Tante Erika hat sich so viel Mühe gegeben – und vermutlich, ob ihrer Altersweitsichtigkeit, die Zutaten gehörig durcheinander gebracht. So manches was man mir auf Tellern vor die Nase schob, fiel in die Kategorie «absolut ungenießbar», charakteristisch für den letzten Tag des Wochenendes. Ein oder zweimal im Jahr gingen wir sonntags ins Kino. Diese kurzen Lichtblicke konnten die Historie der verhassten Sonntage jedoch nur unzureichend aufhellen.
„Vielleicht sollten Sie überlegen, sich zu den andern an den Frühstückstisch zu setzen, Herr Brunswick.“
Und schon beim Frühstück daran erinnert werden, dass ich von Tod und Verderben umgeben bin? Gott bewahre! Ich schüttle den Kopf. Auch ich kann energisch sein.
»Ich mein ja auch nur», fährt sie fort, «Sie sitzen immer so allein auf Ihrem Zimmer und ziehen ein Gesicht wie zehn Tage Regenwetter.
«Sieben», rufe ich aufgebracht, «sieben Tage Regenwetter! Sieben Tage Regenwetter muss es heißen!»
«Aha! Der Herr kann also doch reden», sagt sie, «ob nun zehn, sieben oder fünf, es ändert nichts an der Tatsache, dass Sie ein alter Miesepeter sind!»
Was erwartet dieses junge Ding? Soll ich Freudentänze aufführen, jubelnd über den Flur rennen? […]
Hier sind sie also versammelt, so sagte ich mir, die vornehmsten und wohlhabendsten Frauen Londons. Hier sind die vom Leben begünstigten, die, die einen Platz an der Sonne innehaben; hier Künstler, da Staatsmänner, blaues Blut, Koryphäen der Literaturszene. Alle stehen sie oben.
Wohin mein Auge auch zu schweifen vermag, ich sehe Intrigen, Missgunst und Neid. Eine Unmenge Geist, ziellos verschwendet, erloschene Blicke, aufgesetztes Lachen, keine einzige Bewegung ist wahr. All diese vornehmen Gesichter wollen sich nicht vergnügen, sie suchen Ablenkung, wollen grauer Tristesse und der Eintönigkeit des Londoner Lebens entfliehen. Der ganze eitle Putz und Zierrat, der hübsch angebrachte Schmuck, die teuren Kleider unterdrücken jede Regung des Herzens; einstudierte Gesten, nichtssagende Phrasen, geistreich und feinsinnig vorgetragen, ohne eine erkennbare Gefühlsregung. Zarte Frauen, in einer Ehe mit einem Menschen von elitärem Range verhaftet, präsentieren sich auf der Bühne, ohne auch nur den Schein von Leidenschaft zu erwecken. Keines der vielen distinguierten Gesichter lässt auf eine Seele schließen, die emporzustreben vermag oder gar fähig wäre Scham und Reue zu empfinden. Tatkraft und die Fähigkeit zur Begeisterung sucht man hier vergebens, sind hinter feingeistigen Masken verschlossen; Unglück und Schmerz, aufwallende Gefühle, versteckt unter schöner Toilette. Vermögen ersetzt Leidenschaft, hoher Rang die Regung des Herzens. Sie alle kalkulieren kühl, und wo andere Gefühle von Freude und Begeisterung hegen, agieren sie einzig und allein mit dem Verstand, begnügen sich, an der Oberfläche zu rühren. Die ganze Szenerie ist abstoßend und faszinierend zugleich.
Als ich so meinen Gedanken nachhänge, berührt die Baroness Harmsworth, der ich diese Einladung verdanke, meinen Arm: «Mein Freund, ich muss Ihnen unbedingt jemanden vorstellen.» Wir begeben uns in einen der benachbarten Salons, lassen Gläserklirren und heiteres Stimmengewirr hinter uns. An der Ecke des Kamins sitzt eine wunderschöne, wenn auch etwas schmächtige Frau, die einen unglaublichen Reiz ausstrahlt. Ihre Gesichtszügen fördern einen feinen Schmerz zutage, den Blick hält sie gesenkt, sitzt einfach da, ganz für sich. Ich weiß sofort, ich habe den einzigen Menschen dieser Gesellschaft gefunden.
«Es gibt zwei Möglichkeiten», sage ich mir, «entweder sie liebt mich nicht oder sie liebt einen andern.»
Der Wald rauscht so schön, der Wind wiegt sanft die Kronen der Bäume. Ich kann nicht nicht an Frederike denken. Ein Auerhahn lässt seinen Balzruf ertönen. Ist er genauso einsam wie ich? Im Unterholz raschelt es, ein Kaninchen. Elfen kämen lautlos – nur keine Zwerge bitte. Zwerge waren mir schon immer verhasst. Als ich noch in den Kindesschuhen steckte, habe ich sie getreten, wie sie da so feixend in den Vorgärten standen, rotbemützt, mit glühenden Wangen und voller Optimismus. Nichts kann sie aus der Ruhe bringen. Ich bin anders. Ich lache nicht, wenn man mich tritt.
Hatte es ihr der Herr mit den ergrauten Schläfen angetan, der so wunderbar auf dem Piano spielte? Frederike hing mit ihren Blicken an ihm. Seine Finger flogen über die Tasten. Vom Zuschauen wurde mir schwindlig, ich musste den Blick abwenden. Und da war der Bursche, der so lustig tanzte, immerzu tanzte und Frederike durch die Luft wirbelte. Sie hat gejauchzt vor Freude, als wäre sie noch einmal zehn Jahr alt. Fast wäre ich in den Abgrund gestürzt. Ich rücke meinen Baumstumpf zurecht. Mir gefällt es im Wald. Es ist ruhig und es herrscht ein Zauber. Vielleicht sucht sie mich. Es tagt und ich bin leicht zu finden. Ein Rotkelchen trällert ein fröhliches Lied, ein Specht hämmert seinen Schnabel gegen einen Baum. Mir wird kalt, aber ich kann mich nicht erheben. Gedanken, Gedanken an Frederike nageln mich auf meinen Baumstumpf. Wie war das mit den Zwergen? Sie lachen immerzu, obwohl sie böser Natur sind. Plötzlich bricht ein Reh durchs Dickicht, bleibt wenige Meter vor mir stehen. Tiere haben eine schöne Seele. Sie sind ganz anders als die Menschen, Tiere wissen. Augen betrachten mich. Vielleicht hat Frederike mich noch nicht ganz vergessen. Es kann doch sein. Der Kopf spielt einem manchmal Streiche und die Augen sehen, erfassen aber nicht die Wahrheit. Und es ist doch immer von allem etwas dabei. «Ja» rufe ich aus. Das Reh springt davon. «Es muss nicht alles verloren sein.» Blutrot zeigt sich die Sonne über der Lichtung, ein schmaler Streifen. Ich kann nicht für immer hier bleiben. Vielleicht ist der Ball noch im Gange. Ich wünschte, ich hätte nicht diese klobigen Stiefel an. Dann könnte ich mit ihr tanzen …
Mein Vorgesetzter tritt an meinen Schreibtisch: «Wie angekündigt, hier der Volkswagen-Fall!» Sein Blick sucht einen Platz, wo er die Akte ablegen kann. Ich schiebe einen Berg Akten zur Seite. «Es wäre gut, Sie könnten sich bis morgen einen Überblick verschaffen! Der Kunde steht uns auf den Füßen!» Ich schlucke, nicke stumm. Der Abteilungsleiter des Firmenkundenservices zieht sich in sein Büro zurück, überlässt mich dem Schicksal. «Arschloch», denke ich. Als ob ich nicht genug zu tun hätte. Aus meiner Magengegend steigt es säuerlich empor, meine Kehle brennt. Luft! Ich brauche frische Luft! Der Aufzug bringt mich die siebenundzwanzig Stockwerke nach unten. Gleißendes Sonnenlicht empfängt mich, als ich vor die heiligen Hallen des Bankgebäudes trete. Ich lockere meinen Krawattenknoten, versuche, meine Atmung zu kontrollieren. In mir lodert und brennt es. In einer aufkeimenden Wallung reiße ich mir die Krawatte vom Hals, schleudere sie auf den Boden. «Scheiße! Scheiße, scheiße, scheiße!», schreit es aus mir heraus. Mehrere Bankangestellte, die sich eine friedliche Zigarette gönnen, drehen die Köpfe, ein zittriges Großmütterchen bleibt erschrocken stehen, wackelt dann, einen großen Bogen um mich schlagend, ihres Weges. Zögerlich löst sich eine Dame aus der Gruppe Bankangestellter, trottet, sich an ihre Zigarette klammernd, in meine Richtung. Mit schief gelegtem Kopf beäugt sie mich. «Alles okay?», fragt sie zaghaft, einen größtmöglichen Sicherheitsabstand einhaltend. «Nein! Nichts ist okay! Ich hab die Faxen dicke!», platzt es aus mir heraus. – «Stress, mmh?», stellt sie nüchtern fest. – «Dieser Job macht mich fertig! Ich bin doch kein Tier!», poltere ich weiter, komme in Fahrt, «lieber verkaufe ich Eis!» – «Eis?» Ihre Stirn schlägt arge Falten. «Ja, genau! Ich kündige und werde Eisverkäufer!» Sie lächelt unsicher. «Na, dann», murmelt sie kaum hörbar, «viel Erfolg!», und schließt sich wieder ihrem Rudel an. Warum eigentlich nicht? Was nur so im Zorn daher gesagt war, lässt Bilder vor meinem geistigen Auge entstehen. Ich, an einem sonnenverwöhnten Strand, eine weiße Mütze auf dem Kopf, ein alter umgebauter VW-Bus mein Arbeitsplatz. Das kleine Mädchen, das mir erwartungsvoll ihr Kleingeld entgegenstreckt, bekommt eine üppig bestückte Eistüte. Sie strahlt übers ganze Gesicht. Ich fische meine Krawatte vom Boden und schlendere zum Aufzug. Mir ist leichter zumute. Ich werde Eisverkäufer! Das ist die Idee! Die Türen des Aufzugs öffnen sich. Ich drücke den Knopf mit der Zahl siebenundzwanzig, der Aufzug setzt sich in Bewegung. Meine Gedanken auch. Kann ich wirklich alles hinter mir lassen, einfach in ein neues Leben aufbrechen? Mit jedem Stockwerk wachsen meine Bedenken. Was, wenn’s schief geht? Wie lange reicht mein Erspartes? Ein flaues Gefühl breitet sich in meiner Magengegend aus. Und was ist mit der Rente? Das Eis beginnt zu schmelzen. Eine Kugel Schokoladeneis plumpst in den Sand. Die Kugel Vanille lässt nicht lange auf sich warten. Als sich die Türen des Aufzugs öffnen, ist das kleine Mädchen heulend davongerannt, die Tüte Eis bleibt ungenießbar im Sand zurück, ein Festmahl für die Möwen. Niedergeschlagen begebe ich mich an meinen Schreibtisch, lasse mich erschöpft auf den Stuhl fallen und angle mir die Volkswagen-Akte.
Schon als ich die Haustür aufschließe, habe ich ein ungutes Gefühl. Die Treppen zu meiner Wohnung erklimme ich langsam und mit Argwohn, halte auf jedem Treppenabsatz inne. Es dauert, ehe ich den Schlüssel im Schloss drehe, die Tür zu meiner Wohnung öffne. Sofort knipse ich die Lichter im Flur und der Küche an, wage mich erst dann entlang des Korridors zum Esszimmer. Ich kann ihre Anwesenheit spüren, weiß, dass sie da ist. Als ich vorsichtig um die Ecke ins Esszimmer linse, sehe ich sie, schrecke zurück. Sie sitzt am Tisch. Im Dunkeln. Ich zögere, drücke dann aber doch den Schalter, der den großen Leuchter aufflammen lässt. Sie ist in ihre dunkelblaue Strickjacke gehüllt, hält den Kopf gesenkt, ihre knochigen Hände ruhen im Schoß. Ich nehmen allen Mut zusammen, befehle meinem Körper mir zu gehorchen, betrete den Raum. Mein Herz klopft. «Hallo», will ich sagen, aber ein dicker Klos steckt mir im Hals, unterbindet jedes Wort. Ich versuche es ein zweites Mal, presse mit brüchiger Stimme die fünf Buchstaben über die Lippen. Sie reagiert nicht. Vorsichtig nähere ich mich dem Tisch, rücke den Stuhl, der auf der anderen Kopfseite des Tisches steht, gleite sachte auf die hölzerne Fläche. Weil die Stille an meinen Nervern zerrt, frage ich: «Was machst du hier?» Ich weiß, sie wird nicht antworten. Auch bei ihren letzten Besuchen blieb sie mir eine Antwort schuldig. «Großmutter, was machst du hier?», wiederhole ich dennoch meine Frage. Langsam hebt sie den Kopf und braune, traurige Augen, die jeglichen Glanz verloren haben, werfen mir einen Blick zu, in dem sich Schmerz und Leid eines ganzen Menschenlebens widerspiegeln. Ich kann diesem Blick nicht standhalten. Er dringt durch die oberste Schicht meiner Haut, tastet sich an meine Seele heran, sie zu durchwühlen. «Großmutter, warum …?», hebe ich im Flüsterton an, verstumme mutlos. Mein Körper ist zu Eis erstarrt. Wieder und wieder spüre ich Schübe von Panik in mir aufwallen. Wenn sie doch wenigstens ein Wort von sich geben würde, nur ein einziges Wort. Sie schweigt beharrlich. Plötzlich fängt ihr Körper an zu zucken, wird von unsichtbarer Hand geschüttelt, den Mund reißt sie weit auf. Ich beginne panisch zu schreien, schlage mit dem Stuhl rücklings auf den Parkettboden. Schmetterlinge! Ich sehe Schmetterlinge! Große schwarze Schmetterlinge, die Flügel mit orangefarbenen Ornamenten verziert. Überall flattert es. Ich schnelle in die Höhe, sehe mit angstgeweiteten Pupillen wie die Tiere aus dem aufgerissenen Mund der alten Dame strömen; hunderte Schmetterlinge, ein jeder so groß wie eine Faust. Ihr Flügelschlagen zaubert eine bizarre Geräuschkulisse. Ich versuche zu begreifen, was gerade vor sich geht. Die alte Dame schließt den Mund. Augenblicklich stoppt das Geflatter, die Tiere lassen sich nieder, bevölkern Mobiliar, Decke und Boden, kein Quadratzentimeter bleibt ungenutzt; ein schwarzes, wogendes Meer mit orangefarbenen Schaumkronen. […]
Er ist ausgesprochen höflich: «Darf ich um Ihre Geldbörse bitten, Mister?»
Der Lauf der Pistole, der auf mich gerichtet ist, verleiht der Frage ausreichend Nachdruck. Ich händige ihm mein prall gefülltes Portemonnaie aus. Er pfeift leise durch die Zähne.
«Und wenn wir gerade dabei sind, wären Sie so freundlich», fährt er in ruhigem Tone fort, «Ihre Uhr vom Handgelenk zu streifen und mir Ihr Mobiltelefon zu überlassen?»
Ich öffne den Verschluss der Armbanduhr, tue einen tiefen Seufzer, lasse das Erbstück meines Vaters in seine ausgestreckte Hand gleiten.
«Schöne Uhr» bemerkt er anerkennend, «bitte nun das Telefon!»
«Leider kann ich nicht mit einem Mobiltelefon dienen, junger Mann», erwidere ich, «ich befinde mich nämlich nicht im Besitz eines solchen!»
«Alte Schule, was? Wären Sie damit einverstanden, dass ich Sie einer Leibesvisitation unterziehe?» fragt er, Pistole und Blick unverwandt auf mich geheftet.
«Wenn es denn gar nicht anders geht …»
Er macht einen Schritt auf mich zu, der Lauf der Pistole berührt jetzt meinen Bauch, der von den vielen genussvollen Mahlzeiten einen stattlichen Umfang erreicht hat, beginnt mich mit der freien Hand abzutasten. Als erstes zieht er mein silbernes Zigarettenetui aus der Jackentasche. Als er weiter nichts findet, befühlt er die Taschen meiner Hose, die rechte zuerst.
«Was haben wir hier?» fragte er.
«Die Schlüssel meiner Wohnung.»
«Bitte holen Sie sie aus der Tasche!»
Ich befördere den Schlüsselbund ans Tageslicht.
«Gut, danke! Können Sie wieder einstecken, Mister.»
Nun befühlt er die andere meiner Hosentaschen. Mein silbernes Feuerzeug wechselt in seinen Besitz.
«Mister, es ist mir sehr unangenehm», spricht er, «aber ich muss Sie bitten, sich Ihrer Hose zu entledigen.»
«Sie … meinen … ich … ich soll … die Hose ausziehen?»
«Ja, Mister, ich bitte Sie ausdrücklich darum!»
«Also … das geht wirklich zu weit!» protestiere ich.
«Sie werden nicht glauben, wie viele Menschen Wertsachen nahe ihrer Genitalien spazieren tragen», antwortet er.
«Aber Sie haben doch bereits alles! Weiter habe ich nichts bei mir! Das schwöre ich Ihnen!»
«Ich glaube Ihnen, Mister. Aber ich betreibe mein Metier mit größter Gründlichkeit und Sorgfalt! Darf ich also bitten?»
Ich mache keine Anstalten, seiner Forderung Folge zu leisten.
«Ganz wie Sie wünschen, Mister … dann übernehme ich diesen Job für Sie!»
«N-nein, hören S-sie …», stammle ich.
«Bewahren Sie Ruhe! Wir haben’s gleich geschafft!»
Die Pistole drückt stärker gegen meine Bauchdecke. Ich ergebe mich meinem Schicksal. Er öffnet meinen Gürtel, den Knopf der Hose, was ihn einiges an Mühe kostet, nestelt am Reißverschluss. Es dauert, ehe er ihn aufbekommt. Dann zerrt er an meiner Hose, hält in gebückter Haltung inne: «Mister, was ist denn das?»
«Ich … ich …»
«Sie sind mir ja einer!», meint er lachend.
«Es … es ist nicht so, wie Sie denken. Ich …»
«Reizwäsche??? Sie tragen Reizwäsche?»
«Nein. Ja. Weil … ich komme gerade von meiner Geliebten und die … die schläft nur mit mir, w-wenn … ja, also, wenn ich diese verflixte …«
«Eduardo!», tönt eine Stimme. Wir schreckten beide zusammen. Weder der junge Mann mit der Pistole noch ich hatten die Gestalt bemerkt, die aus der schmalen Seitengasse trat. Der Dieb verharrt in seiner gebückten Haltung, bohrt die Pistole in meinem Bauch, zischelt: «Keine Dummheiten, Mister, bloß keine Dummheiten!»
«Tomasz«, rufe ich verwirrt, «was machst Du hier?»
«Was ich hier mache? Das wollte ich Dich gerade fragen! Aber wie mir scheint, ist das absolut der falsche Zeitpunkt. Ich hatte ja üüüberhaupt keine Ahnung, dass du auf Jungs stehst!«
«Tomasz … nein …» setze ich an.
«Schon gut, schon gut!» fällt er mir ins Wort, «alles halb so wild! Wir sind ja erwachsene Menschen! Sehen wir uns Mittwoch zum Dinner?»
Meine Hose rutscht bis zu den Knöcheln.
«Wow! Entzückende Unterwäsche, Eduardo! Bis dann!» echot Tomasz, schüttelt den Kopf, dreht sich um und verschwindet in der Dunkelheit.
«Verdammt!» fluche ich.
Der Straßendieb kann das Lachen nicht länger unterdrücken. «Verzeihen Sie, Mister! Ha-ha. Das ist zu gut! Ha-ha-ha. Ich lach mich tot! Danke für diese köstliche Abendunterhaltung!»
«Ja, ja», brumme ich, «wer den Schaden hat …»
«Sie sehen absolut großartig aus! Ha-ha. Ein Bild für die Götter!», lacht er weiter, «hier haben Sie Ihre Sachen zurück!»
Ich blicke ihn ungläubig an.
«Diese Vorstellung ist einfach unbezahlbar!», meint er vergnügt, «ich hatte schon lange nicht mehr so viel Spaß!», drückt mir meine Sachen in die Hand, verbeugt sich und zieht lachend von dannen.