Da war er – zwischen den Schenkeln seiner Mutter in gleißendes Licht und Kälte, mitten ins große Abenteuer Leben gespresst. Die Freude über das Erscheinen des Erstgeborenen war groß. Man hegte und pflegte ihn, er gedieh. Bedeutenden Aufwand betrieb man, ihn zum rechtschaffenen Bürger zu erziehen. Bald sollte sich herausstellen: alles andere als ein Kinderspiel! Verstieß der Junge doch wiederholt gegen den üppig ausgestatteten Regelkatalog. Man hegte die Hoffnung, Hausarrest könne den Jungen auf den Pfad der Tugend führen und sperrte ihn in sein Zimmer. Dort saß er dann, völlig niedergeschlagen, den Kopf mit düsteren Gedanken gefüllt, während draußen seine Spielkameraden gegen das runde Leder traten. Ab und an drang ihr fröhliches Jauchzen durch das Fenster seiner Gefängniszelle. Es war reine Folter. Bittere Tränen kullerten ihm über die Wangen, im Verein mit stürmischen Wutausbrüchen. Es fehlte nicht viel und er hätte den Verstand verloren. Das Herz seiner Gefängniswärter war aus Stein.
Trübselig griff er ein Buch aus dem Regal, blätterte, aus Ermangelung eines Besseren, frustriert durch die Seiten. Unmöglich, sich auf die Worte zu konzentrieren, die dort geschrieben standen. Fast war es, als habe er das Lesen verlernt. Nach geraumer Zeit, als die Dämmerung nicht mehr fern war, kehrte ein wenig in Ruhe in seinen Geist und einer Handvoll Sätze gelang, in sein Bewusstsein vorzudringen. Aus einigen Sätzen wurde rasch eine ganze Seite, die nächste folgte. Jetzt hatte es ihn gepackt, das Lesefieber. Er vergaß, dass er das ärmste Kind der Welt war und las, bis ihm die Augen vor Müdigkeit zufielen.
Kindererziehung ist schwer, Hausarrest ein probates Mittel einen Büchernarr heranzuziehen. Bald liebte er nichts mehr auf dieser Welt, als sich in Büchern zu vergraben, verschlang Werke von Enid Blyton, Astrid Lindgren, Erich Kästner und die dicken, schweren Bände Karl Mays. Sein Onkel meinte ob seiner Obsession, er solle aufpassen, dass er nicht die Buchstaben aus den Büchern lese.
Etliche Jahre sind seitdem in die Lande gezogen und doch hat er es nicht zum rechtschaffenen Bürger gebracht. Tausende Bücher später aber weiß er, es ist ein Ding der Unmöglichkeit, Buchstaben aus Büchern zu lesen. Auch heute, in einem Leben gänzlich ohne Hausarrest, ist stets ein Buch griffbereit, in das er die Nase stecken und abtauchen kann – aktuell: «Schuld und Sühne» von Fjodor Michailowitsch Dostojewski.
Eines Tages regte sich der Wunsch in ihm, selbst den Stift in die Hand zu nehmen und dem Ausdruck zu schenken, was in den Tiefen von Geist und Seele schlummert. Auf diesen Seiten kann die geneigte Leserin / der geneigte Leser in Erfahrung bringen, ob der Erfolg diesem Abenteuer die Krone aufzusetzen vermag.